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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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zu erhalten. Aber das kapierst du natürlich nicht. Dazu bist du zu egoistisch und zu selbstsüchtig. Du musst den ganzen Tag graben, du armes Ding! Du bist nur eine verwöhnte Göre.« Er wandte sich ab und ging davon.

40
    Das Stroh kitzelte im Gesicht. Jonas schlief. Beim Ausatmen pfiff er leise. Ich warf mich auf dem Lager hin und her.
    »Er bemüht sich, Lina«, sagte Mutter.
    »Er schläft«, erwiderte ich.
    »Ich meine Andrius. Er bemüht sich, und du gibst ihm keine Chance. Du solltest wissen, dass nicht alle Männer so nett sind.«
    »Das verstehst du nicht, Mutter.«
    Sie überhörte mich und fuhr fort: »Ich merke, wie aufgewühlt du bist. Jonas hat erzählt, dass du gemein zu Andrius warst. Das ist ungerecht. Freundlichkeit kann manchmal unbeholfen wirken. Aber Andrius ist in seiner Unbeholfenheit ernsthafter als die edlen Männer, über die du in deinen Büchern gelesen hast. Dein Vater war sehr unbeholfen.«
    Eine Träne rollte über meine Wange.
    Sie lachte leise im Dunkeln. »Er hat mir erzählt, dass ich ihn schon bei der ersten Begegnung verzaubert habe. Und was ist tatsächlich passiert? Er wollte mit mir reden und ist dabei von einem Baum gefallen. Er ist von einer Eiche gefallen und hat sich einen Arm gebrochen.«
    »Das ist etwas anderes, Mutter«, sagte ich.
    »Kostas«, seufzte sie. »Er war so ungeschickt und zugleich so ernsthaft. Unbeholfenheit kann manchmal wunderschön sein. Liebe und zärtliche Gefühle suchen nach einer Möglichkeit, sich auszudrücken, und was dabei herauskommt, wirkt unbeholfen. Verstehst du?«
    »Hm«, sagte ich und versuchte, die Tränen zu unterdrücken.
    »Gute Männer sind oft nicht hübsch, aber tatkräftig«, sagte Mutter. »Wie es der Zufall will, vereint Andrius beides in sich.«
Ich fand keinen Schlaf. Immer, wenn ich die Augen schloss, sah ich, wie er mir zuzwinkerte, wie sein hübsches Gesicht auf mich zukam. Ich konnte noch sein Haar riechen.
»Bist du wach?«, flüsterte ich.
Joana drehte sich zu mir um. »Ja. Bei der Hitze kann man ja nicht schlafen«, sagte sie.
»Mir schwirrt der Kopf. Er sieht so … gut aus«, gestand ich.
Sie kicherte und schlang die Arme um ihr Kopfkissen. »Und er tanzt noch besser als sein großer Bruder.«
»Welchen Eindruck hattest du von uns beiden?«, fragte ich.
»Ihr hattet offensichtlich viel Spaß«, sagte sie.
»Ich kann es kaum erwarten, ihn morgen wiederzusehen«, seufzte ich. »Er ist einfach toll.«
Am nächsten Tag liefen wir nach dem Mittagessen zum Ferienhaus, um unsere Haare zu bürsten. Als ich das Haus wieder verließ, hätte ich beinahe Jonas umgerannt.
»Wohin willst du?«, fragte er.
»Wir gehen spazieren«, antwortete ich und eilte davon, um Joana einzuholen.
Ich versuchte, nicht zu rennen, weil ich die aufgerollte Zeichnung in meiner Hand nicht verknicken wollte. Da ich nicht hatte schlafen können, hatte ich beschlossen, ihn zu zeichnen. Das Porträt wurde so gut, dass Joana vorschlug, ich solle es ihm schenken. Sie versicherte mir, dass mein Talent ihn beeindrucken würde.
Sein Bruder kam Joana schon auf der Straße entgegen.
»Hallo, Fremde«, sagte er und lächelte sie an.
»Hallo!«, erwiderte Joana.
»Hallo, Lina. Was hast du da?«, fragte er und zeigte auf die Zeichnung in meiner Hand.
Joana sah zum Eisladen. Ich kam hinter ihr hervor, weil ich Ausschau nach ihm halten wollte.
»Lina«, sagte sie und hielt mich zurück.
Aber es war zu spät. Ich hatte ihn schon gesehen. Mein Prinz hatte ein rothaariges Mädchen im Arm. Sie schmiegten sich aneinander, lachten, teilten sich ein Eis in der Waffel. Mein Magen verkrampfte sich.
»Ich habe etwas vergessen«, sagte ich und wich zurück. Ich zerdrückte das Porträt in meiner feuchten Hand. »Bin gleich wieder da.«
»Ich begleite dich«, sagte Joana.
»Nein, nicht nötig«, erwiderte ich und hoffte, dass die Hitzeflecken, die ich am Hals spürte, nicht zu sehen waren. Ich rang mir ein Lächeln ab. Meine Mundwinkel zuckten. Dann ging ich und versuchte, mich zu beherrschen, bis ich weit genug weg war.
Ich biss zwar die Zähne zusammen, konnte die Tränen aber nicht zurückhalten. Ich blieb stehen und lehnte mich gegen eine Mülltonne.
»Lina!«, rief Joana, als sie mich eingeholt hatte. »Alles in Ordnung?«
Ich nickte. Dann rollte ich das zerknitterte Porträt seines hübschen Gesichts auseinander und zerriss es. Die Fetzen entglitten meinen Fingern und wurden über die Straße geweht. Jungen waren Idioten. Sie waren alle Idioten.

41
    Der Herbst brach

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