Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Er hatte strahlende Augen und ein warmherziges Lächeln. Sein Mund war ruhig und entspannt, nicht verkniffen wie der von Fräulein Grybas oder dem Glatzkopf. Wer mochte das sein? Ein Litauer? Ich nahm mir vor, ihn so zu zeichnen, dass seine Frau und seine Kinder das Bild gern betrachten würden. Wo befand sich dieser Mann, und was wollte man von ihm? Die Tinte strömte gleichmäßig aus dem Stift. Einen solchen Stift konnte ich gut gebrauchen. Als Kretzky sich abwandte, ließ ich ihn in meinen Schoß fallen und bückte mich tiefer über den Tisch.
Da ich etwas zur Schattierung der Haare des Mannes brauchte, tauchte ich einen Finger in Kretzkys Becher und verrieb den Kaffeesatz auf meinem Handrücken. Dann verlieh ich dem Haar mit der bräunlichen Substanz Struktur. Fast . Ich beugte mich vor und benutzte den kleinen Finger, um einen sanften Bogen zu beschreiben. Perfekt . Ich hörte Schritte. Zwei Zigaretten lagen plötzlich vor mir auf dem Tisch. Ich drehte mich erschrocken um. Hinter mir stand der Kommandant. Bei seinem Anblick prickelten meine Arme und mein Nacken. Ich drückte mich dicht gegen den Tisch, um den in meinem Schoß liegenden Stift zu verbergen. Er betrachtete mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Unter seiner Oberlippe glänzte der Goldzahn.
»Fertig«, sagte ich und schob ihm die Zeichnung hin.
»Da«, sagte er nickend. Er starrte mich an und ließ dabei den Zahnstocher über die Lippen wandern.
45
Ich eilte im Dunkeln an den Hütten entlang zum NKWD-Gebäude am Rande des Lagers. Hinter den dünnen Bretterwänden hörte ich murmelnde Stimmen. Ich hielt mich dicht an den Bäumen, Zigaretten und Zeichenstift in der Tasche. Hinter einem Baum blieb ich stehen. Im Vergleich zu unseren Hütten wirkte das Blockhaus des NKWD wie ein Hotel. Kerosinlampen sorgten für Helligkeit. Auf der Veranda spielten einige NKWD-Männer Karten und ließen eine Flasche kreisen.
Ich schlich im Schatten zur Rückseite des Blockhauses. Dort hörte ich etwas – jemand weinte, dann wurde auf Litauisch geflüstert. Ich bog um die Ecke. Auf einer Kiste saß Frau Arvydas. Ihre Schultern bebten im Takt ihrer erstickten Schluchzer. Andrius kniete vor ihr und hielt ihre Hände. Als ich näher kam, riss er den Kopf hoch.
»Was willst du, Lina?«, fragte er.
»Ich … Geht es Ihnen gut, Frau Arvydas?«
Sie wandte ihr Gesicht ab.
»Verschwinde, Lina«, sagte Andrius.
»Kann ich irgendwie helfen?«, fragte ich.
»Nein.«
»Kann ich wirklich nichts tun?«, hakte ich nach.
»Verschwinde, habe ich gesagt!« Andrius erhob sich. Er baute sich vor mir auf.
Ich stand reglos da. »Ich wollte dir etwas geben«, sagte ich und griff in die Tasche.
Frau Arvydas drehte sich zu mir um. Unter ihrer Schminke war ein blutiger Striemen auf der Wange zu sehen.
Was hatten sie ihr getan? Ich zerknautschte unwillkürlich die Zigaretten. Andrius starrte mich an.
»Tut mir leid.« Meine Stimme stockte und versagte. »Tut mir wirklich leid.« Ich machte kehrt und rannte weg. Beim Laufen hatte ich schnell wechselnde Bilder vor Augen – die gelben Zähne der grinsenden Uljuschka; die toten Augen der im Dreck liegenden Ona; der Wachmann, der sich mir näherte und mit geschürzten Lippen Rauch auspustete – Lass das, Lina –; Papas zerschundenes Gesicht im Abortloch; die neben den Gleisen liegenden Toten; der Kommandant, der meine Brust berührte. Lass das! Ich konnte nicht.
Ich rannte zu unserer Hütte.
»Was ist denn los, Lina?«, fragte Jonas.
»Nichts!«
Ich lief auf und ab. Ich hasste dieses Arbeitslager. Warum waren wir hier? Ich hasste den Kommandanten. Ich hasste Kretzky. Uljuschka meckerte und stampfte mit einem Fuß, damit ich mich setzte.
»Halt den Mund, alte Hexe!«, schrie ich.
Ich kramte in meinem Koffer. Meine Hand stieß gegen den Stein, den Andrius mir geschenkt hatte. Ich überlegte, ihn auf Uljuschka zu werfen. Stattdessen versuchte ich, ihn zu zerdrücken, aber mir fehlte die Kraft dazu. Ich steckte ihn wieder ein und griff nach meinem Papier.
Hinter unserer Hütte gab es etwas Licht. Ich begann, kurze, kratzige Striche mit dem gestohlenen Stift auf dem Papier zu ziehen. Ich atmete durch, zeichnete flüssiger. Frau Arvydas erschien auf dem Blatt. Ihr Schwanenhals, ihre sinnlichen Lippen. Beim Zeichnen musste ich daran denken, dass Schmerz, Liebe und Verzweiflung laut Munch die Glieder einer endlos langen Kette waren.
Ich atmete ruhiger und schattierte Frau Arvydas’ volles kastanienbraunes Haar, das sich sanft
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