Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Taschentuch in seiner Brusttasche. Beeilung, Papa , drängte ich ihn. Bitte spute dich.
»Keine Sorge, Lina, er kommt bald«, sagte Mutter. »Er holt nur das Heu für den Tisch.«
Ich stand am Fenster und schaute auf den Schnee.
Jonas half Mutter im Esszimmer. »Morgen gibt es also ein Essen mit zwölf Gängen. Wir werden den ganzen Tag essen.« Er leckte sich die Lippen.
Mutter strich das weiße Tuch auf dem Esszimmertisch glatt.
»Darf ich neben Oma sitzen?«, fragte Jonas.
Papas dunkle Silhouette tauchte auf der Straße auf, bevor ich etwas einwenden und verlangen konnte, selbst neben Oma zu sitzen.
»Er kommt!«, rief ich und schnappte mir meinen Mantel. Ich lief die Eingangsstufen hinab und stellte mich mitten auf die Straße. Die kleine, dunkle Gestalt, die durch den fallenden Schnee auf mich zukam, wurde im Zwielicht der Dämmerung immer größer. Dann erklangen die Glöckchen eines Pferdegeschirrs.
Ich hörte seine Stimme, bevor ich ihn richtig sehen konnte.
»Welches unvernünftige Mädchen steht denn im Schneetreiben mitten auf der Straße?«
»Ein Mädchen, dessen Vater spät dran ist«, neckte ich ihn.
Dann erschien Papas frostrotes Gesicht. Er trug ein kleines Heubündel.
»Ich bin nicht zu spät«, sagte er und nahm mich in den Arm. »Ich komme genau richtig.«
51
Der Heilige Abend kam. Ich hackte den ganzen Tag Holz. Meine Nasenlöcher waren mit gefrorenem Schnodder verkrustet. Ich versuchte die ganze Zeit, mir Einzelheiten unserer Weihnachtsfeste in Erinnerung zu rufen. An diesem Abend verschlang niemand seine Brotration gleich nach dem Erhalt. Wir begrüßten einander herzlich und kehrten dann in unsere Hütten zurück. Jonas wurde langsam wieder der Alte. Wir wuschen die Haare in Schneewasser und schrubbten unsere Fingernägel. Mutter steckte ihr Haar hoch und legte Lippenstift auf. Dann rieb sie mir ein bisschen auf die Wangen, damit ich Farbe bekam.
»Ist nicht perfekt, aber wir geben unser Bestes«, sagte Mutter, die unsere Haare und Kleider glatt strich.
»Vergesst das Familienfoto nicht«, sagte Jonas.
Andere hatten die gleiche Idee gehabt, und so gab es in der Hütte des Glatzkopfs viele Fotos von Familien und geliebten Menschen. Ich sah ein Bild von Frau Rimas mit ihrem Mann, der genauso klein war wie sie. Auf dem Foto lachte sie, und sie wirkte ganz anders, viel kräftiger. Inzwischen ging sie so krumm, als hätte jemand die Luft aus ihr herausgelassen. Der Glatzkopf war an diesem Abend ungewöhnlich still.
Wir setzten uns auf den Fußboden wie um einen Tisch. In der Mitte hatte man ein weißes Tuch ausgebreitet, und vor jedem Anwesenden lagen Heu und Fichtenzweige. Ein Platz war leer, dort brannte nur eine Talgkerze. Die litauische Tradition verlangte, dass ein Platz zum Gedenken an verstorbene oder abwesende Familienangehörige frei blieb. Die Leute stellten die mitgebrachten Fotos vor diesem Platz auf, und auch ich platzierte unser Familienbild behutsam neben der Kerze.
Ich holte das Bündel mit dem aufgesparten Essen heraus und legte es in die Mitte. Manche Leute zauberten kleine Überraschungen aus dem Hut, zum Beispiel eine beiseitegelegte Kartoffel. Die mürrische Frau steuerte Kekse bei, die sie offenbar im Dorf gekauft hatte. Mutter bedankte sich überschwänglich bei ihr.
»Das hier ist vom jungen Arvydas und seiner Mutter«, sagte der Glatzkopf. »Zum Nachtisch.« Er warf etwas in die Mitte, wo es mit einem lauten Plumps landete. Die Leute staunten nicht schlecht, und ich konnte es auch kaum glauben. Ich war so verblüfft, dass ich lachen musste. Es war Schokolade. Echte Schokolade! Und der Glatzkopf hatte sie nicht angerührt.
Jonas jubelte.
»Pst, Jonas. Nicht so laut«, mahnte Mutter. Sie betrachtete die Tafel Schokolade. »Herrlich! Unser Becher ist übervoll.«
Der Glatzkopf stellte auch den Wodka in die Mitte.
»Sie wissen doch, dass das nicht geht«, schalt Fräulein Grybas ihn. »Nicht an Kucios .«
»Woher zum Teufel soll ich das wissen?«, fauchte der Glatzkopf.
»Vielleicht nach dem Essen«, sagte Mutter mit einem Augenzwinkern.
»Ich möchte nichts davon«, erwiderte der Glatzkopf. »Ich bin Jude.«
Alle sahen auf.
»Aber … Herr Stalas, warum haben Sie uns das nicht früher gesagt?«, fragte Mutter.
»Weil es Sie nichts angeht«, blaffte er.
»Wir haben uns an all den Tagen vor Weihnachten getroffen, und Sie waren so nett, Ihre Hütte zur Verfügung zu stellen. Hätten wir es gewusst, dann hätten wir Chanukka mitfeiern können«, sagte
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