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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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Gesicht.
    »Nicht meine Kinder«, flüsterte sie. »Bitte verschone sie, lieber Gott. Er hat doch erst so wenig vom Leben gehabt. Nimm stattdessen mich … bitte.« Sie hob den Kopf. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Leid. »Kostas?«
    Zu später Stunde kam Herr Lukas. Er hatte eine Kerosinlampe dabei. »Skorbut«, erklärte er nach einem Blick auf Jonas’ Gaumen. »Im fortgeschrittenen Stadium. Seine Zähne werden schon blau. Keine Sorge, es ist nicht ansteckend. Aber der Junge braucht dringend Vitamine, damit seine Organe nicht endgültig den Dienst versagen. Er ist unterernährt und könnte jederzeit sterben.«
    Mein Bruder sah aus wie eine Illustration zum 102. Psalm: Ich verdorre wie Gras . Mutter eilte los, um zu betteln, und ließ mich mit Jonas allein. Ich legte ihm Kompressen auf die Stirn. Ich schob ihm Andrius’ Stein in die Hand und erzählte ihm, dass ihn die Glitzerstückchen darin heilen würden. Ich erzählte ihm Geschichten aus unserer Kindheit und beschrieb Zimmer für Zimmer unser Haus. Ich griff nach Mutters Bibel und flehte Gott an, meinen Bruder zu verschonen. Mir wurde schlecht vor Sorge. Schließlich nahm ich mein Papier und wollte etwas für Jonas zeichnen, damit es ihm besser ging. Ich hatte gerade mit einem Bild seines Schlafzimmers begonnen, als Andrius kam.
    »Wie lange geht das schon so?«, fragte er und kniete sich neben Jonas.
    »Seit dem Nachmittag«, antwortete ich.
    »Kann er mich hören?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Jonas. Du wirst wieder. Du musst nur etwas Anständiges essen. Halt durch, mein Freund, hörst du?«
    Jonas lag reglos da.
    Andrius holte ein Stoffbündel aus dem Mantel und wickelte eine kleine silberne Konservendose aus. Dann bohrte er mit seinem Taschenmesser ein Loch in den Deckel.
    »Was ist das?«, fragte ich.
    »Er muss das hier essen«, sagte Andrius und beugte sich über Jonas. »Hörst du mich, Jonas? Mach den Mund auf!«
    Mein Bruder reagierte nicht.
    »Mach den Mund auf, Jonas«, sagte ich. »Wir haben hier etwas, das dir helfen wird.«
    Er öffnete die Lippen.
    »Gut so«, sagte Andrius. Er fischte mit dem Messer eine saftige, gekochte Tomate aus der Konservendose. Meine Kiefermuskeln verkrampften sich, und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Als die Tomate Jonas’ Mund berührte, begannen seine Lippen zu zittern. »Ja, kauen und schlucken«, sagte Andrius. Er drehte sich zu mir um. »Habt ihr Wasser?«
    »Regenwasser«, antwortete ich.
    »Gib ihm etwas davon«, sagte Andrius. »Er muss die Dose leer essen.«
    Ich beäugte die Konservendose. Von der Messerklinge lief Saft über Andrius’ Finger. »Woher hast du sie?«, fragte ich.
    Er sah mich verärgert an. »Vom Markt an der Ecke. Noch nie dort gewesen?« Er stierte mich an, dann wandte er sich ab. »Was glaubst du denn? Ich habe die Dose geklaut.« Er schob Jonas die letzte Tomate in den Mund. Am Ende trank Jonas noch den Saft. Andrius wischte Klinge und Finger an der Hose ab. Mein ganzer Körper verzehrte sich nach dem Saft.
    Mutter kehrte mit einer der sibirischen Schusterinnen zurück. Sie hatten Schnee auf Köpfen und Schultern. Die Frau lief zu meinem Bruder und redete auf Russisch auf ihn ein.
    »Ich habe versucht, ihr zu erklären, was Jonas fehlt«, sagte Mutter. »Aber sie wollte ihn unbedingt selbst sehen.«
    »Andrius hat eine Konservendose mit Tomaten gebracht«, sagte ich. »Er hat sie Jonas zu essen gegeben.«
    »Tomaten?«, rief Mutter. »Oh, tausend Dank! Vielen Dank, du Guter. Bitte richte deiner Mutter auch meinen Dank aus.«
    Die sibirische Frau begann, auf Mutter einzureden.
    »Sie kennt angeblich einen Heiltee«, übersetzte Andrius. »Sie bittet deine Mutter, ihr beim Zusammenstellen der Kräuter zu helfen.«
    Ich nickte.
    »Kannst du noch ein bisschen bleiben, Andrius?«, fragte Mutter. »Jonas geht es sicher viel besser, wenn du hier bist. Und setz Teewasser auf, Lina.« Mutter beugte sich über Jonas. »Ich bin gleich zurück, mein Schatz. Wir besorgen nur rasch Zutaten für einen Tee, der dir helfen wird.«

49
    Wir saßen schweigend da. Andrius starrte meinen Bruder an und ballte die Fäuste. Was mochte in ihm vorgehen? War er wütend, weil Jonas krank war? War er wütend, weil seine Mutter mit den NKWD-Männern schlief? War er wütend, weil sein Vater tot war? Oder war er nur wütend auf mich?
    »Andrius.«
    Er sah mich nicht an.
    »Ich bin so ein Dummkopf, Andrius.«
    Er drehte sich zu mir um.
    »Ihr seid so gut zu uns, und ich … ich bin einfach nur dumm.« Ich senkte

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