Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Mutter.
»Glauben Sie, ich hätte Chanukka nicht gefeiert?«, erwiderte der Glatzkopf und zeigte auf sie. »Ich mache nur nicht so viel Aufhebens darum wie ihr Dummköpfe.« Im Raum trat Schweigen ein. »Ich plappere nicht ständig über meinen Glauben. Er ist Privatsache. Und um ganz ehrlich zu sein: Mohnsamensuppe schmeckt ekelhaft.«
Die Leute rutschten unbehaglich auf ihren Plätzen. Dann musste Jonas lachen, denn er fand Mohnsamensuppe auch ekelhaft. Der Glatzkopf stimmte in sein Lachen ein, und bald lachten wir alle hysterisch.
Wir saßen stundenlang an unserem Tisch auf dem Fußboden und aßen, sangen Choräle und Weihnachtslieder. Mutter redete so lange auf den Glatzkopf ein, bis dieser das hebräische Gebet Ma’oz Tzur sprach. Dabei klang er kein bisschen verkniffen. Er schloss die Augen, und seine Worte waren voller Gefühl.
Ich betrachtete unser Familienfoto, das vor dem leeren Platz stand. Wir hatten Weihnachten immer zu Hause gefeiert. Aus der Küche waren warme Düfte durch das Haus gezogen, und draußen hatten Glöckchen geklingelt. Ich stellte mir das dunkle Esszimmer mit dem spinnwebverhangenen Kronleuchter und dem Esstisch vor, auf dem eine dünne Staubschicht lag. Dann dachte ich an Papa. Was tat er wohl an Weihnachten? Ließ er auch ein Stückchen Schokolade auf seiner Zunge zergehen?
Da wurde die Hüttentür aufgestoßen. NKWD-Männer polterten herein, richteten Gewehre auf uns.
»Dawai!«, bellte einer und packte Herrn Lukas. Die Leute protestierten.
»Bitte! Es ist der Heilige Abend«, bat Mutter. »Wollen Sie uns ausgerechnet am Heiligen Abend zu einer Unterschrift zwingen?«
Die Wachmänner brüllten und stießen die Leute aus der Hütte. Ich wollte nicht ohne Papa gehen, kroch zu dem freien Platz und schob das Familienfoto unter mein Kleid. So konnte ich es auf dem Weg zum Büro der Kolchose unbemerkt bei mir tragen. Kretzky war es nicht aufgefallen. Er stand reglos da, das Gewehr in der Hand, und starrte die vielen Fotografien an.
52
Am ersten Weihnachtstag mussten wir ordentlich schuften. Da ich in der Nacht zuvor nicht geschlafen hatte, konnte ich am Ende kaum noch gehen. Mutter hatte Uljuschka eine ganze Schachtel Zigaretten zu Weihnachten geschenkt, und die Alte hatte die Füße neben den Ofen gelegt und rauchte. Woher hatte Mutter die Zigaretten? Ich begriff nicht, warum sie Uljuschka überhaupt etwas schenkte.
Jonas kam in Begleitung von Andrius, der uns frohe Weihnachten wünschte.
»Vielen Dank für die Schokolade«, sagte Mutter. »Wir konnten unseren Augen nicht trauen.«
»Warte kurz, Andrius«, sagte Jonas. »Ich habe etwas für dich.«
»Ich habe auch etwas für dich«, sagte ich und holte eine Zeichnung aus dem Koffer, die ich Andrius überreichte.
»Sie ist nicht besonders gut geworden«, sagte ich, »aber die Perspektive ist dieses Mal besser. Kleinere Nasenlöcher.«
»Sie gefällt mir sehr«, sagte Andrius, der meine Zeichnung betrachtete.
»Wirklich?«
Seine Augen strahlten, als er mich ansah. »Danke.«
Ich wollte etwas sagen, bekam aber kein Wort heraus. »Frohe Weihnachten«, krächzte ich schließlich.
»Hier«, sagte Jonas und hielt Andrius die Hand hin. »Er hat dir gehört, dann hast du ihn Lina gegeben. Sie hat ihn mir geschenkt, als ich krank war, und ich bin gesund geworden. Er scheint Glück zu bringen. Jetzt sollst du ihn haben.« Jonas öffnete die Faust. Auf seiner Handfläche lag der Glitzerstein. Er gab ihn Andrius.
»Danke. Ja, er ist ein Glücksbringer«, sagte Andrius und betrachtete den Stein.
»Frohes Fest«, sagte Jonas. »Und noch einmal vielen Dank für die Tomaten.«
»Ich begleite dich«, sagte Mutter. »Ich würde deiner Mutter gern ein frohes Fest wünschen, falls sie sich davonstehlen kann.«
Jonas und ich legten uns im Mantel und mit Stiefeln auf das Stroh.
»Früher hatten wir Schlafanzüge. Weißt du noch?«, fragte Jonas.
»Ja, und Daunendecken«, sagte ich. Ich drückte mich in das Stroh, wurde schläfrig. Die Kälte des harten Bodens kroch in meinen Rücken und in meine Schultern.
»Ich hoffe, Papa hat heute eine Daunendecke«, sagte Jonas.
»Das hoffe ich auch.«
»Frohes Fest, Lina.«
»Frohes Fest, Jonas«, antwortete ich. Und flüsterte: »Frohes Fest, Papa.«
53
Lina !«, rief Andrius, der in unsere Hütte stürmte. »Sie wollen dich holen.«
»Wer denn?«, fragte ich erschrocken. Ich war gerade von der Arbeit gekommen.
»Der Kommandant und Kretzky sind hierher unterwegs.«
»Was? Wieso?«, fragte
Weitere Kostenlose Bücher