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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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den Blick.
    Er schwieg.
    »Ich habe zu voreilig geurteilt. Ich war blöd. Es tut mir leid, dass ich dir vorgeworfen habe zu spionieren. Ich habe mich hinterher schrecklich gefühlt.« Er blieb stumm. »Andrius?«
    »Es tut dir leid? Gut, gut«, sagte er und sah wieder meinen Bruder an.
    »Und … deine Mutter tut mir auch so leid!«, platzte es aus mir heraus.
    Ich griff nach meinem Block und setzte mich, um das Bild von Jonas’ Zimmer zu vollenden. Zuerst war mir die Stille sehr bewusst. Sie war zäh, und ich fühlte mich unwohl. Aber dann versank ich im Zeichnen. Ich versuchte mit Hingabe, die Falten der Decke möglichst weich wiederzugeben. Tisch und Bücher mussten auch gut werden. Jonas liebte seinen Tisch und seine Bücher. Ich liebte Bücher. Wie ich meine Bücher vermisste.
Ich umklammerte schützend meinen Schulranzen mit den Büchern. Dieses Mal durfte ich ihn nicht so achtlos hin und her schwenken wie sonst, denn Edvard Munch war darin. Ich hatte fast zwei Monate warten müssen, bis meine Lehrerin die Bücher erhalten hatte. Nun waren sie endlich angekommen. Aus Oslo.
Meine Eltern würden Munch sicher missbilligen. Manche bezeichneten seine Bilder als »entartete Kunst«. Aber ich war schon beim ersten Anblick der Reproduktionen von Angst und Der Schrei fasziniert gewesen und hatte mehr sehen wollen. Seine Bilder waren so verzerrt und verdreht, als hätte sie ein Neurotiker gemalt. Ich war von Anfang an wie gebannt gewesen.
Als ich unser Haus betrat, sah ich den einsamen Umschlag und rannte zum Flurtischchen. Ich riss den Brief auf.
Liebe Lina,
ich wünsche Dir ein frohes neues Jahr. Tut mir leid, dass ich nicht früher geschrieben habe. Nun, da die Weihnachtsferien vorbei sind, hat der Ernst des Lebens wieder begonnen. Mutter und Vater haben sich gestritten. Vater hat ständig schlechte Laune und findet kaum Schlaf, er läuft die ganze Nacht herum. Jeden Mittag kommt er nach Hause, um nach der Post zu schauen. Er hat fast alle Bücher in Kisten verpackt, weil sie seiner Meinung nach zu viel Platz einnehmen. Er hat sogar versucht, ein paar meiner Medizinbücher einzupacken. Ob er den Verstand verliert? Seit dem Einmarsch der Sowjets hat sich alles verändert.
Kannst Du mir ein Bild des Ferienhauses in Nida zeichnen, Lina? Die Erinnerungen an den warmen und schönen Sommer werden mir helfen, die Kälte bis zum Frühling zu überstehen.
Schreib mir bitte, was es Neues bei Dir gibt, und erzähl mir von Deinen Zeichnungen und Gedanken.
Deine Dich liebende Cousine
Joana
    »Er hat mir von seinem Flugzeug erzählt«, sagte Andrius und zeigte über meine Schulter auf die Zeichnung. Ich hatte ihn ganz vergessen.
    Ich nickte. »Er liebt es heiß und innig.«
    »Darf ich mal sehen?«
    »Natürlich«, sagte ich und gab ihm den Block.
    »Das ist richtig gut«, sagte Andrius. Sein Daumen lag auf dem Rand des Blocks. »Darf ich die anderen auch sehen?«
    »Ja«, sagte ich und war froh, dass ich noch nicht alle Skizzen herausgenommen hatte.
    Andrius blätterte um. Ich nahm den Umschlag von Jonas’ Stirn und ging nach draußen, um ihn im Schnee zu kühlen. Bei meiner Rückkehr betrachtete Andrius das Bild, das ich von ihm gezeichnet hatte. Es zeigte ihn an dem Tag, als Frau Rimas den Brief erhalten hatte.
    »Ich sehe albern aus«, sagte er und lachte leise.
    Ich setzte mich. »Du bist größer als ich. Das war meine Perspektive. Wir standen ja ganz dicht nebeneinander.«
    »Dann hast du ja einen guten Blick auf meine Nasenlöcher gehabt«, sagte er.
    »Tja, ich habe zu dir aufgesehen. Aus dieser Perspektive würdest du anders aussehen«, erwiderte ich und musterte ihn.
    Er drehte sich zu mir um. »Besser oder schlechter?«, fragte er.
    Da kehrten Mutter und die Sibirierin zurück.
    »Vielen Dank, Andrius«, sagte Mutter.
    Er nickte. Dann flüsterte er Jonas etwas ins Ohr und ging.
    Wir taten die Kräuter in das kochende Wasser. Jonas trank den Tee. Mutter wich nicht von seiner Seite. Ich legte mich hin, konnte aber nicht schlafen. Immer, wenn ich die Augen schloss, sah ich Munchs Gemälde Der Schrei vor mir. Doch das Gesicht darauf war mein Gesicht.

50
    Jonas brauchte zwei Wochen, um sich zu erholen. Beim Laufen zitterten seine Beine. Wenn er sprach, war es nicht einmal ein Flüstern. Währenddessen wurden Mutter und ich immer schwächer, denn wir mussten unsere Brotrationen mit ihm teilen. Anfangs gaben die Leute etwas ab, wenn wir sie baten. Aber je kälter es in unseren Hütten wurde, desto mehr schwand die

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