Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Großzügigkeit. Eines Tages bemerkte ich, wie Fräulein Grybas uns den Rücken zukehrte und sich die ganze Brotration sofort nach dem Erhalt in den Mund stopfte. Ich konnte es ihr nicht verübeln, denn ich hatte auch oft daran gedacht. Danach baten Mutter und ich nicht mehr um Brot.
Trotz ständiger Nachfrage weigerte sich der NKWD, uns Jonas’ Ration zu geben. Mutter versuchte sogar, mit dem Kommandanten zu reden. Er lachte ihr ins Gesicht und sagte etwas, das sie noch Tage später aufregte. Wir konnten auch nichts mehr verkaufen. Alles, was wir besessen hatten, hatten wir bei den Leuten aus dem Altai gegen warme Kleider eingetauscht. Das Futter von Mutters Mantel war so dünn wie Gaze.
Die Aussicht auf Weihnachten hob die Stimmung. Wir trafen uns in unseren Hütten und schwelgten in Erinnerungen an die Weihnachtsfeste in Litauen. Wir redeten ohne Unterlass über Kucios , unseren Heiligen Abend, und beschlossen, ihn in der Hütte des Glatzkopfs zu begehen. Er stimmte mürrisch zu.
Wir schlossen die Augen, wenn von den zwölf köstlichen Speisen erzählt wurde, die für die zwölf Apostel standen. Die Leute wiegten sich nickend hin und her. Mutter erwähnte die leckere Mohnsamensuppe und den Preiselbeerpudding. Frau Rimas brach in Tränen aus, als die Rede auf die Oblaten und den traditionellen Weihnachtssegen kam: »Gebe Gott, dass wir uns im nächsten Jahr alle wiedersehen.«
Die Wachmänner wärmten sich nach der Arbeit mit Schnaps. Sie vergaßen oft, nach uns zu schauen, oder wagten sich nicht in den eiskalten Wind hinaus. Wir trafen uns jeden Abend, und es erzählte immer jemand von den Weihnachtsritualen seiner Familie. Mutter wollte unbedingt, dass wir die mürrische Frau auch einluden. Ihre Unterschrift, meinte sie, bedeute ja nicht, dass sie kein Heimweh habe.
Es schneite, und die Temperatur fiel weiter, aber Arbeit und Kälte waren einigermaßen erträglich, weil wir uns auf etwas freuen konnten, auf ein bescheidenes Ritual, das ein wenig Licht in unsere grauen Tage und dunklen Nächte bringen würde.
Ich stahl nun regelmäßig Holzscheite für den Ofen des Glatzkopfs. Mutter machte sich Sorgen, aber ich beteuerte, dass ich vorsichtig sei. Außerdem wagten sich die NKWD-Leute nicht in die Kälte. Sie waren zu bequem dazu. Eines Abends trat ich aus der Hütte des Glatzkopfs, um neues Holz zu stehlen. Da hörte ich ein Geräusch und erstarrte. Irgendjemand stand im Schatten hinter der Hütte. War es Kretzky? Oder gar der Kommandant? Mir gefror das Blut in den Adern …
»Ich bin es, Lina.«
Andrius riss im Dunkeln ein Streichholz an, und die Flamme erhellte kurz sein Gesicht. Er zündete sich eine Zigarette an.
»Hast du mich erschreckt!«, sagte ich. »Was tust du hier?«
»Ich höre euch von hier draußen zu.«
»Warum kommst du nicht herein? Hier ist es eiskalt«, sagte ich.
»Ich wäre nicht willkommen. Und es wäre ungerecht, denn alle außer mir haben Hunger.«
»Stimmt nicht. Wir würden uns freuen. Wir reden nur über Weihnachten.«
»Ich weiß. Ich habe euch ja belauscht. Ich muss meiner Mutter jeden Abend alles erzählen.«
»Wirklich? Wenn ich heute wieder etwas von Preiselbeerpudding höre, werde ich verrückt«, sagte ich lächelnd. »Ich will nur Holz holen.«
»Du klaust?«
»Ja, ich glaube schon«, antwortete ich.
Er schüttelte kichernd den Kopf. »Du bist kein Angsthase, wie?«
»Nein«, sagte ich. »Mir ist nur kalt.«
Er lachte.
»Möchtest du mitkommen?«, fragte ich.
»Nein, ich sollte wohl besser heimkehren«, erwiderte er. »Sei vorsichtig. Gute Nacht.«
Drei Tage später kamen Frau Arvydas und Andrius mit einer Flasche Wodka vorbei. Bei ihrem Eintreten verstummten alle. Frau Arvydas trug Strümpfe, ihre Haare waren gewaschen und in Locken gelegt. Andrius sah zu Boden, die Hände tief in den Taschen vergraben. Mir war es gleich, dass sie ein sauberes Kleid trug und keinen Hunger litt. Niemand hätte mit ihr tauschen wollen.
»Stoßen wir an«, sagte Mutter und hob die Flasche zu Frau Arvydas. »Auf gute Freunde.«
Frau Arvydas nickte lächelnd. Mutter nippte an der Flasche und schwenkte dann fröhlich die Hüften. Wir machten alle mit, nippten am Wodka und lachten, genossen den Augenblick. Andrius lehnte an der Wand und sah uns grinsend zu.
An diesem Abend stellte ich mir vor, dass Papa uns über die Feiertage besuchen würde. Ich malte mir aus, wie er durch den Schneefall auf das Altaigebirge zustapfte und genau rechtzeitig zu Weihnachten eintraf, mein
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