Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Monster, Mutter«, sagte ich und wischte Wasser von der Narbe auf meiner Stirn.
Sie tat einen Schritt auf mich zu und wrang ihr Kleid aus. »Wir wissen nicht, wie er ist.«
Ich schnaubte. »Er ist ein …«
Mutter packte meinen Arm. Ein Schmerz schoss in meine Schulter. Sie sprach durch zusammengebissene Zähne. »Wir wissen es nicht. Hörst du? Wir wissen nicht, wie er ist. Er ist ein junger Mann. Nur ein junger Mann.« Mutter ließ mich los. »Und ich schlafe nicht mit ihm«, fauchte sie Jonas an. »Wie kannst du es wagen, so etwas auch nur anzudeuten?«
»Mutter …«, stammelte Jonas.
Sie ging davon, während ich meinen Arm rieb.
Jonas stand da, erschüttert von Mutters Wutanfall.
67
Die Kähne quälten sich wochenlang auf der Angara stromabwärts. Irgendwann stiegen wir aus und fuhren tagelang auf Lastwagen durch dichte Wälder. Wir kamen an umgestürzten Baumriesen vorbei, deren hohle Stämme so dick waren, dass man hätte hindurchfahren können. Ich sah keinen einzigen Menschen. Der finstere, undurchdringliche Wald umgab uns auf allen Seiten. Wohin brachten sie uns? Wir schwitzten am Tag und froren bei Nacht. Die Blasen verheilten. Wir aßen alles, was man uns gab, und waren froh, nicht arbeiten zu müssen.
Schließlich erreichten die Lastwagen Ust-Kut an der Lena. Wir mussten erneut auf Kähne warten. Das Ufer der Lena war von kleinen Kieselsteinen übersät. Es goss in Strömen, und die provisorischen Zelte am Ufer boten keinen Schutz. Ich lag auf meinem Koffer, damit Dombey und Sohn , meine Zeichnungen, der Stein und das Familienfoto nicht nass wurden. Janina stand im Regen. Sie sah zum Himmel auf und sprach mit einem unsichtbaren Gegenüber. Kretzky ging mit knirschenden Schritten am Ufer auf und ab. Er brüllte, dass die Gruppen zusammenbleiben müssten. Abends beobachtete er das silbrige Band aus Mondlicht auf der Lena und bewegte sich nur, um an der Zigarette zu ziehen.
Mein Russisch wurde immer besser. Aber Jonas war mir weit voraus.
Nach zwei Wochen trafen die Kähne ein, und nachdem die NKWD-Leute uns an Bord getrieben hatten, fuhren wir weiter nach Norden.
Wir verließen Ust-Kut und kamen an Kirensk vorbei.
»Es geht nach Norden«, sagte Jonas. »Vielleicht fahren wir ja wirklich nach Amerika.«
»Willst du Papa etwa hierlassen?«, fragte ich.
Jonas starrte schweigend auf das Wasser.
Der Lange redete immer nur von Amerika. Er versuchte, eine Karte der Vereinigten Staaten zu zeichnen, und sprach über Details, die er von Freunden und Verwandten erfahren hatte. Er glaubte felsenfest an seine Behauptung.
»In Amerika gibt es hervorragende Universitäten. Vor allem in einem Landstrich namens Neuengland. Und New York ist angeblich sehr schick«, erzählte Joana.
»Wer sagt, dass New York schick ist?«, fragte ich.
»Meine Eltern.«
»Und woher wissen sie das?«
»Ein Onkel meiner Mutter lebt dort.«
»Ich dachte, ihre ganze Familie wäre in Deutschland«, sagte ich.
»Anscheinend hat sie auch einen Verwandten in Amerika. Er schreibt ihr. Er lebt in Pennsylvania.«
»Pah. Amerika ist mir egal. Dort gibt es keine guten Künstler. Mir fällt kein einziger namhafter amerikanischer Künstler ein.«
»Zeichne mich lieber nicht«, sagte der Glatzkopf. »Ich mag keine Bilder von mir.«
»Ich bin fast fertig, um ehrlich zu sein«, erwiderte ich und schattierte seine fleckigen Wangen.
»Zerreiß es«, forderte er mich auf.
»Nein«, sagte ich. »Keine Sorge. Ich zeige es niemandem.«
»Das solltest du auch nicht tun, wenn du dich nicht in Gefahr bringen willst.«
Ich betrachtete meine Zeichnung. Ich hatte seine gekräuselte Lippe und seine übliche sauertöpfische Miene eingefangen. Er war nicht hässlich. Aber mit den tiefen Stirnfalten sah er irgendwie verrückt aus.
»Warum hat man Sie deportiert?«, fragte ich. »Sie waren doch angeblich Briefmarkensammler. Wird man verhaftet, weil man Briefmarken sammelt?«
»Kümmere dich um deinen eigenen Kram«, erwiderte er.
»Wo ist Ihre Familie?«, fragte ich weiter.
»Das geht dich nichts an«, fauchte er und zeigte mit einem krummen Finger auf mich. »Und wenn du nicht ganz dumm bist, versteckst du deine Zeichnungen gut. Hörst du?«
Janina setzte sich neben mich.
»Du wirst nie eine berühmte Künstlerin werden«, sagte der Glatzkopf.
»Doch, das wird sie«, entgegnete Janina.
»Nein, wird sie nicht. Und weißt du auch, warum nicht? Weil sie nicht tot ist. Aber gut – in dieser Hinsicht kann man wohl noch hoffen. Amerika.
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