Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Glück.«
»Meine Puppe ist tot«, erzählte Janina. »Sie ist im Himmel.«
Mutter nickte und tätschelte ihren Arm.
»Die Göre soll endlich still sein«, meckerte der Glatzkopf. »Du da, Langer – weißt du Neues vom Krieg?«
»Die Japaner haben Pearl Harbor bombardiert. Sie haben es bombardiert«, erwiderte der Mann.
»Pearl Harbor? Sie haben Amerika angegriffen?«, fragte Frau Rimas.
»Wann denn?«, wollte der Glatzkopf wissen.
»Irgendwann um Weihnachten. Ja, an Weihnachten.« Der Mann hatte offenbar einen nervösen Tick und wiederholte bestimmte Wörter.
»Dann haben die Vereinigten Staaten Japan den Krieg erklärt?«, fragte Mutter.
»Ja. Und Großbritannien. Großbritannien hat Japan auch den Krieg erklärt.«
»Woher kommen Sie?«, fragte der Glatzkopf.
»Litauen«, antwortete der Mann.
»Das weiß ich, Idiot. Woher sind Sie heute gekommen?«
»Aus Kalmanka«, sagte der Mann. »Ja, Kalmanka.«
»Kalmanka, eh? Ist das ein Gefängnis oder ein Lager?«, fragte der Glatzkopf.
»Ein Lager. Hm, hm. Ein Lager. Ein Betrieb für Kartoffelanbau. Und Sie?«
»Wir waren auf einer Rübenkolchose bei Turaciak«, antwortete Mutter. »Waren nur Litauer bei Ihnen im Lager?«
»Nein. Die meisten waren Letten«, sagte der Mann. »Und Finnen. Ja, Finnen.«
Finnen. An Finnland hatte ich gar nicht mehr gedacht. Ich erinnerte mich an den Abend, als Dr. Seltzer auf der Suche nach Papa zu uns gekommen war. Damals war die Sowjetunion in Finnland einmarschiert.
»Die Grenze ist nur dreißig Kilometer von Leningrad entfernt«, hatte Dr. Seltzer Mutter erzählt. »Stalin will sich vor den Westmächten schützen.«
»Werden die Finnen verhandeln?«, hatte Mutter gefragt.
»Die Finnen sind stark. Sie werden kämpfen«, hatte Dr. Seltzer erwidert.
64
Der Zug fuhr stampfend an. Sein Klackern, Quietschen und Knallen quälten mich. Er trug mich immer weiter fort von Andrius, immer weiter in das Unbekannte. Die Lampe schwankte wie ein Pendel unter der Decke, erhellte hohlwangige Gesichter, warf Schatten quer durch den Waggon. Janina unterhielt sich flüsternd und kichernd mit dem Geist ihrer toten Puppe.
Das gelb angelaufene Mädchen ächzte neben Jonas. Als sie Blut auf seinen Rücken hustete, zerrte Mutter ihn von der Pritsche, zog ihm das Hemd aus und warf es aus dem Abortloch. Ich fand das überflüssig, denn wir atmeten sowieso alle die gleiche Luft. Schleim und Blut auf einem Hemd konnten auch nicht ansteckender sein.
»Entschuldige«, schluchzte das Mädchen. »Ich habe dein Hemd ruiniert.«
»Schon gut«, sagte Jonas, der die Arme um seinen nackten Oberkörper schlang. Sein Ausschlag war immer noch nicht ganz verschwunden – er hatte rosa Flecken auf den Rippen.
Der lange Mann, der alles wiederholte, erzählte freudig und mit großer Gewissheit von Amerika, Amerika. Ich hatte nur die Gewissheit meiner Sehnsucht nach Papa, Andrius und meinem Zuhause.
In der dritten Nacht schrak ich aus dem Schlaf. Irgendjemand tippte auf meine Brust. Ich erblickte Janina, die mich aus großen Augen anschaute. Hinter ihrem Kopf schwang die Lampe hin und her.
»Was ist denn, Janina?«
»Liale hat mit mir gesprochen.«
»Sag Liale, dass Schlafenszeit ist«, sagte ich und schloss die Augen.
»Sie kann nicht schlafen. Sie hat mir erzählt, dass das Mädchen mit dem gelben Gesicht tot ist.«
»Was?«
»Liale meint, das Mädchen ist tot. Kannst du nachsehen? Ich fürchte mich zu sehr.«
Ich drückte Janinas Kopf gegen meine Brust. »Pssst. Schlaf weiter.« Sie zitterte in meinen Armen. Ich horchte auf den Husten, doch er war verstummt. »Schlaf wieder ein, Janina.« Ich wiegte sie sanft.
Ich dachte an Andrius. Was mochte er im Lager tun? Hatte er sich meine Zeichnungen angeschaut? Ich griff in die Tasche und schloss die Finger um den Stein, hatte vor Augen, wie Andrius mich anlächelte und in der Brotschlange an meiner Mütze zog.
Das gelb angelaufene Mädchen war tatsächlich tot. Trockenes Blut zog sich in Streifen von den Mundwinkeln bis zum Kinn. Am nächsten Tag wuchteten die Wachmänner die Leiche aus dem Waggon. Ihre weinende Mutter sprang hinterher. Ein Schuss krachte. Sie stürzte zu Boden. Eine trauernde Mutter war nur ein Ärgernis.
Der Proviant der von mir verachteten Uljuschka erhielt uns im Waggon am Leben. Wir aßen, was sie Mutter zugesteckt hatte, und teilten mit anderen. Im ruckelnden Zug zeichnete ich ihr breites Gesicht mit den vielen Härchen.
Niemand verschmähte das Wasser oder den grauen
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