Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
ging jetzt mit sichereren Schritten. Vor dem Tor wurden Frauen und Männer getrennt.
»Warte auf uns«, schärfte Mutter Jonas ein.
Dann sollten wir uns ausziehen und die Kleider bei einer Gruppe sibirischer Arbeiter abgeben. Die meisten kannten keine Scham mehr und zogen sich rasch aus. Alle wollten sauber sein. Ich senkte zögernd den Blick.
»Beeilung, Lina!«
Ich wollte nicht, dass sie mich anglotzten oder anfassten, und ich verschränkte die Arme vor den Brüsten.
Mutter sprach mit einem Sibirier. »Wir müssen uns sputen, denn es ist nur eine Rast, sagt er. Später am Tag soll noch eine große Gruppe kommen. Er sagt, dass hier schon Letten, Esten und Ukrainer durchgeschleust wurden. Du musst dich nicht zieren, mein Schatz. Wirklich nicht.«
Die Männer schienen uns keines Blickes zu würdigen. Warum sollten sie auch? Unsere mageren Körper sahen fast geschlechtslos aus. Ich hatte seit neun Monaten keine Regel mehr gehabt. Ich fühlte mich vollkommen unweiblich. Ein Batzen Schweinefleisch oder ein schaumiges Bier hätte die Männer sicher mehr gereizt.
Nach dem Duschen wurden wir mit unseren Habseligkeiten auf einen Lastwagen geladen. Man fuhr uns durch den Wald. Nach etlichen Kilometern erreichten wir den Fluss Angara.
»Wo sind wir?«, fragte Jonas.
Große Holzhütten standen am Ufer. Zwischen den Bäumen stand ein wuchtiges NKWD-Gebäude.
»Sie verladen uns auf Boote. Seht ihr nicht? Wir fahren nach Amerika. Amerika!«, sagte der Lange. »Wir fahren auf dem Angara zur Lena und von dort auf See bis zur Beringstraße. Zur Beringstraße.«
»Das würde Monate dauern«, erwiderte Herr Lukas und zog seine Uhr auf.
Amerika? Sollten wir Papa im Gefängnis in Krasnojarsk zurücklassen? Wie sollte ich ihm meine Zeichnungen schicken? Und was war mit dem Krieg? Was, wenn sich die anderen Länder mit Stalin verbündeten? Ich hatte wieder Andrius’ Gesicht vor Augen, als er mir erzählt hatte, dass wir auf der Liste standen. Irgendetwas an seiner Miene sagte mir, dass wir nicht nach Amerika fuhren.
66
Die Boote hatten Verspätung. Wir warteten über eine Woche am Ufer der Angara. Man gab uns Gerstenbrei zu essen. Mir wollte nicht in den Kopf, warum sie uns mehr als nur Brot gaben. Das geschah nicht aus Nettigkeit. Wir sollten kräftig sein, aber zu welchem Zweck? Wir saßen wie im Urlaub in der Sonne. Ich zeichnete für Papa und schrieb Andrius täglich einen Brief. Ich zeichnete auf kleinen Zetteln, damit niemand etwas merkte, und versteckte sie zwischen den Seiten von Dombey und Sohn . Eine Estin, die mich zeichnen sah, gab mir zusätzliches Papier.
Wir schleppten Holz, aber nur für unsere abendlichen Lagerfeuer, an denen wir litauische Lieder sangen. Der ganze Wald hallte von den Heimatliedern der Balten wieder. Zwei Frauen mussten mit dem Zug nach Tscheremchowo fahren, um dem NKWD beim Abholen von Vorräten zu helfen. Sie gaben unsere Post auf.
»Würden Sie dies bitte nach Tscheremchowo mitnehmen und an irgendjemanden weitergeben?« Ich reichte einer der Frauen ein flaches Holzstück.
»Wunderschön! Du hast die Blumen gut getroffen. Ich hatte Gartenraute daheim auf meinem Hinterhof«, seufzte sie. Dann sah sie mich an: »Ist dein Vater in Krasnojarsk?«
Ich nickte.
»Mach dir bitte nicht zu viele Hoffnungen, Lina. Krasnojarsk ist sehr weit weg«, sagte Mutter.
Eines Tages wateten Mutter und ich in die Angara, nachdem wir in der Sonne gesessen hatten. Wir liefen lachend aus dem Wasser. Unsere Kleider klebten an unseren mageren Körpern.
»Werft euch etwas über!«, rief Jonas, der sich suchend umsah.
»Wieso?«, fragte Mutter und zupfte am nassen Stoff.
»Sie schauen zu«, erwiderte Jonas und nickte in Richtung der NKWD-Leute.
»Sie interessieren sich nicht für uns, Jonas. Schau uns doch an. Wir haben kaum noch Reize«, sagte Mutter, die ihre Haare auswrang. Ich schlang die Arme um den Oberkörper.
»Sie haben sich für Frau Arvydas interessiert. Und vielleicht findet er dich ja auch interessant«, sagte Jonas.
Mutter ließ die Hände sinken. »Von wem redest du? Wer?«
»Nikolai«, sagte Jonas.
»Kretzky?«, fragte ich. »Warum ausgerechnet er?«
»Das musst du Mutter fragen«, erwiderte Jonas.
»Sei still, Jonas. Wir kennen Nikolai nicht«, sagte Mutter.
Ich sah sie an. »Warum nennst du ihn Nikolai? Woher kennst du seinen Namen?«
Mutter sah von mir zu Jonas. »Weil ich ihn danach gefragt habe«, antwortete sie.
Mein Herz sank in die Hose. Hatte Jonas Recht? »Aber er ist ein
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