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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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Dreihundert Gramm. Mehr bekamen wir nicht. Einmal sah ich, wie er einer alten Frau, die in der Schlange vor der Bäckerei stand, das Brot entriss und genüsslich kaute. Die Frau sah ihm zu und mahlte im Gleichtakt mit den Kiefern. Dann spuckte er ihr das Brot vor die Füße. Sie kroch auf dem Boden herum, sammelte den Brei auf und stopfte sich alles in den Mund. Frau Rimas erzählte, dass Iwanow angeblich aus einem Gefängnis in Krasnojarsk hierher versetzt worden war. Seine Stationierung in Trofimowsk war also eine Degradierung. Hatte man Kretzky auch degradiert? Ich fragte mich, ob Iwanow in dem Gefängnis gewesen war, in dem Papa saß.
    Mein Magen schmerzte. Ich sehnte mich nach dem grauen Getreidebrei, den wir im Zug erhalten hatten. Ich zeichnete detailreiche Bilder von Mahlzeiten – dampfendes Hühnchen mit knuspriger, glänzender Haut, Schüsseln mit Pflaumen, Apfelkuchen mit mürber Kruste. Ich notierte alles über das amerikanische Schiff und seine Ladung.
    Der NKWD befahl uns, Stämme aus der Laptewsee zu bergen, die wir dann zu Feuerholz zerhacken und zum Trocknen stapeln mussten. Wir durften keinen einzigen Scheit behalten und saßen in der Jurte vor dem kalten Ofen. Ich dachte daran, wie wir die Essensreste daheim in den Abfall getan hatten. Ich hörte Jonas sagen: Aber ich bin satt, Mutter , nachdem er aufgefordert worden war, seinen Teller leer zu essen. Satt. Gab es jetzt noch eine Minute, in der wir satt gewesen wären?
    »Mir ist kalt«, klagte Janina.
    »Dann geh und such Holz für den Ofen«, sagte der Glatzkopf.
    »Aber wo?«, fragte sie.
    »Du musst es stehlen. Drüben beim NKWD«, antwortete der Glatzkopf. »Die anderen holen es auch dort.«
    »Verlangen Sie nicht von ihr, zu stehlen. Ich werde etwas besorgen«, sagte ich.
    »Ich komme mit«, sagte Jonas.
    »Mutter?«, fragte ich, weil ich glaubte, sie würde etwas dagegen einwenden.
    »Hmm?«, brummte sie.
    »Jonas und ich suchen Holz.«
    »Ja, geht nur, mein Schatz«, erwiderte sie leise.
    »Geht es Mutter gut?«, fragte ich, als wir unsere Matschhütte verließen.
    »Sie wirkt schwächer und ein wenig verwirrt«, antwortete Jonas.
    Ich blieb stehen. »Hast du Mutter essen sehen, Jonas?«
    »Ja, ich glaube schon.«
    »Überleg mal. Wir haben zwar gesehen, dass sie an etwas geknabbert hat, aber sie gibt uns immer Brot«, sagte ich. »Sie hat uns auch gestern etwas gegeben und gemeint, es wäre eine Extraration für das Bergen der Stämme.«
    »Glaubst du, dass sie uns ihre Ration gibt?«
    »Auf jeden Fall einen Teil davon«, sagte ich. Mutter hungerte, um uns zu ernähren.
    Wir liefen durch den heulenden Wind zu den Backsteingebäuden. Bei jedem Atemzug brannte meine Kehle. Die Sonne ließ sich nicht blicken, denn die Polarnacht hatte begonnen. Die Einöde wurde vom Mondschein in Blau- und Grautöne getaucht. Der Lange hatte immer wieder gemeint, wir müssten den ersten Winter überstehen, und Mutter hatte ihm zugestimmt. Wenn wir diesen Winter überstanden, würden wir überleben. Wir mussten die Polarnacht durchstehen, bis die Sonne endlich wieder schien.
    »Frierst du?«, fragte Jonas.
    »Mir ist eiskalt.« Der Wind blies durch meine Kleider, stach meine Haut wie mit Nadeln.
    »Willst du meinen Mantel?«, fragte er. »Er müsste dir passen.«
    Ich sah meinen Bruder an. Der Mantel, den Mutter für ihn eingetauscht hatte, war zu groß gewesen, aber jetzt war er hineingewachsen.
    »Nein. Dann würdest du frieren«, erwiderte ich. »Trotzdem vielen Dank.«
    Da rief jemand: »Vilkas!« Es war Kretzky. Er trug einen langen Wollmantel und hatten einen Stoffsack in der Hand.
    »Wohin wollt ihr?«, fragte er herrisch.
    »Wir suchen nach Treibholz für den Ofen«, antwortete Jonas. »Wissen Sie, wo wir welches finden?«
    Kretzky zögerte. Dann griff er in den Sack, warf uns ein Stück Holz vor die Füße und ging davon, bevor wir etwas sagen konnten.
    In dieser Nacht, am 26. September, erlebten wir den ersten Schneesturm.
    Er hielt zwei Tage an. Der Wind heulte und blies Schnee durch die Spalten unserer Jurte. Ich spürte die Kälte in den Knien und Hüftgelenken. Sie pochten und schmerzten, und ich konnte mich kaum regen. Wir kauerten uns aneinander, um es etwas wärmer zu haben. Der Lange drückte sich dicht gegen mich. Sein Atem roch faulig.
    »Hast du Fisch gegessen?«, fragte der Glatzkopf.
    »Fisch? Ja, ein kleines bisschen Fisch«, antwortete der Mann.
    »Warum hast du nichts für uns mitgebracht?«, herrschte ihn der Glatzkopf an.
    Die

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