Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
sitzt dein Vater im Gefängnis, und deshalb wirst du hier in der Hölle der Arktis sterben, während deine beste Freundin längst in Amerika ist.«
Was redete er da? Joana nach Amerika entkommen? Wie sollte das möglich sein?
»Repatriieren, falls sie damit durchkommen«, sagte mein Vater und verstummte, als er mich in der Tür stehen sah.
Liebe Lina,
nun, da die Weihnachtsferien vorbei sind, hat der Ernst des Lebens wieder begonnen. Vater hat fast alle Bücher in Kisten verpackt, weil sie seiner Meinung nach zu viel Platz einnehmen.
Ich dachte an meinen letzten Geburtstag. Papa war etwas zu spät im Restaurant eingetroffen. Als ich erzählte, dass Joana mir nichts geschickt hatte, erstarrte er kurz. »Sie hat bestimmt zu viel um die Ohren«, erwiderte er.
»Schweden wäre besser«, sagte Mutter.
»Unmöglich«, erklärte Papa. »Sie können nur nach Deutschland.«
»Wer fährt nach Deutschland?«, rief ich aus dem Esszimmer.
Schweigen trat ein.
»Ich dachte, ihre ganze Familie wäre in Deutschland«, sagte ich.
»Anscheinend hat sie auch einen Verwandten in Amerika. Er schreibt ihr. Er lebt in Pennsylvania.«
Es war möglich.
Joanas Freiheit hatte mich die meine gekostet.
»Ein Königreich für eine Zigarette«, sagte der Glatzkopf.
74
Warum hast du es mir verschwiegen?«
»Wir wollten deinen Onkel schützen. Und er wollte uns dann im Gegenzug helfen«, antwortete Mutter.
»Helfen?«, fragte Jonas. »Bei was?«
»Bei unserer Flucht«, flüsterte Mutter.
Es gab keinen Grund zu flüstern. Alle taten so, als wären sie mit ihren Kleidern oder Fingernägeln beschäftigt, aber sie konnten jedes Wort hören. Nur Janina musterte uns. Sie kniete neben Jonas und zupfte Läuse aus ihren Augenbrauen.
»Sie wollten uns nach ihrer Ankunft im Deutschen Reich Papiere für unsere eigene Repatriierung schicken.«
»Was heißt ›Repatriierung‹?«, wollte Janina wissen.
»Dorthin zurückkzukehren, woher die Familie ursprünglich stammt«, erklärte ich ihr.
»Seid ihr Deutsche?«, fragte Janina.
»Nein, meine Kleine. Aber die Familie meiner Schwägerin stammt aus Deutschland«, antwortete Mutter. »Wir haben geglaubt, die Papiere mit ihrer Hilfe bekommen zu können.«
»Papa hat ihnen also geholfen? Dann war er ja doch ein Komplize«, sagte ich.
»Komplize? Er hat kein Verbrechen begangen, Lina. Er hat ihnen nur geholfen. Sie sind Verwandte«, erwiderte sie.
»Dann ist Joana in Deutschland?«, fragte ich.
»Höchstwahrscheinlich«, sagte Mutter. »Aber die Sache hat eine schlimme Wendung genommen. Im April, nach ihrer Abreise, hat dein Vater erfahren, dass der NKWD ihr Haus durchsucht hat. Irgendjemand muss die Sowjets informiert haben.«
»Wer würde so etwas tun?«, fragte Jonas.
»Litauer, die mit den Sowjets gemeinsame Sache machen. Sie verraten andere Leute, damit sie selbst verschont werden.«
Irgendjemand hustete bellend.
»Ich begreife nicht, warum Joana mir nichts davon erzählt hat«, sagte ich.
»Sie wusste von nichts! Ihre Eltern haben es ihr bestimmt verschwiegen, damit sie es nicht weitererzählen konnte. Sie glaubte, sie würden Freunde der Familie besuchen«, sagte Mutter.
»Andrius hat erzählt, dass man seinem Vater Kontakte in das Ausland unterstellt hat. Und nun glauben die Sowjets, dass Papa mit irgendjemandem außerhalb Litauens in Verbindung steht«, sagte Jonas leise. »Das bedeutet, dass er in Gefahr ist.«
Mutter nickte. Janina stand auf und legte sich neben ihre Mutter.
Gedanken rasten durch meinen Kopf. Sie folgten so rasch aufeinander, dass ich sie nicht verarbeiten konnte. Wir wurden bestraft, während Joanas Familie gemütlich in Deutschland lebte. Wir hatten unser Leben für ihres gegeben. Mutter war wütend auf den Glatzkopf. Sie hatte sich darauf verlassen, dass er alles für sich behielt, aber er hatte es ausgeplaudert, um fünf Minuten lang Fäustlinge tragen zu dürfen. Hatten Mutter und Vater geglaubt, uns nicht vertrauen zu können? Hatten sie je überlegt, welche Folgen ihre Hilfe haben könnte? Ich kratzte mich am Hinterkopf. Die Läuse bissen sich bis zu meinem Nacken hinab.
»Wie egoistisch! Wie konnten sie uns das antun?«, fragte ich.
»Sie mussten auch viel aufgeben«, sagte Jonas.
Mir stand der Mund offen. »Wie meinst du das?«, fragte ich. »Sie mussten nichts aufgeben! Stattdessen haben wir alles für sie aufgegeben.«
»Sie haben ihr Zuhause aufgegeben. Onkel Petras hat seinen Laden aufgegeben, Joana ihr Studium.«
Ihr Studium. Joana wollte
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