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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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ebenso gern Ärztin werden wie ich Künstlerin. Ich konnte noch zeichnen, aber wegen des Krieges konnte sie in Deutschland sicher nicht Medizin studieren. Wo mochte sie sein? Wusste sie von unserem Schicksal? Hatten die Sowjets die Deportationen vor der Welt verheimlichen können? Und wenn ja, wie lange würden sie geheim bleiben? Ich dachte an den abfahrenden Frachter aus Amerika. Würde man je auf die Idee kommen, in der sibirischen Arktis nach uns zu suchen? Wenn es nach Stalin ging, würden wir hier unter Eis und Schnee begraben werden.
    Ich holte mein Papier und setzte mich in den Feuerschein des Ofens. Ich kochte vor Wut. Es war so ungerecht! Aber ich hasste Joana nicht, denn es war nicht ihre Schuld. Doch wer war schuld? Ich zeichnete zwei Hände, die sich zugleich hielten und voneinander lösten. Ich zeichnete ein Hakenkreuz auf Joanas Handfläche, Hammer und Sichel auf meinen Handrücken und dazwischen eine zerfetzte, fallende litauische Flagge.
    Da hörte ich ein Kratzen. Herr Lukas schnitzte an einem kleinen Holzstück. Die Scheite knackten, und Asche flog aus der Blechtonne.
»Sieht irgendwie zerkratzt aus«, sagte Jonas. Er saß im Schneidersitz auf meinem Bett und betrachtete die Reproduktionen der Gemälde Munchs, die ich aus Oslo bekommen hatte.
»Ja, stimmt. Er hat die Leinwand mit dem Spachtel bearbeitet«, sagte ich.
»Das lässt die Frau … verwirrt aussehen«, meinte Jonas. »Ohne die Kratzerei würde sie traurig wirken. So wirkt sie verwirrt.«
»Genau«, sagte ich und kämmte mein warmes, sauberes Haar mit weit ausholenden Bewegungen. »Aber in Munchs Augen wurde das Gemälde so lebendig. Er war selbst verwirrt. Die Proportionen waren ihm egal. Er wollte, dass es sich echt anfühlte.«
Jonas blätterte zum nächsten Bild. »Findest du das hier auch echt?«, fragte er mit großen Augen.
»Oh, ja«, antwortete ich. »Es heißt Asche .«
»Ich weiß nicht, was du mit echt meinst. Ich finde es jedenfalls echt unheimlich«, sagte Jonas beim Aufstehen. »Deine Bilder gefallen mir besser, Lina. Diese sind zu gespenstisch. Gute Nacht.«
»Schlaf gut«, sagte ich. Ich nahm die Reproduktionen und ließ mich auf mein Bett fallen, versank in der weichen Gänsedaunendecke. Am Seitenrand stand der Kommentar eines Kunstkritikers: »Munch ist vor allem ein lyrischer Poet der Farben. Er sieht sie nicht, sondern er spürt sie. Und was er sieht, sind Leid, Trauer und Verfall.«
Leid, Trauer und Verfall. Genau das sah ich in Munchs Bild. Ich fand es großartig.
    Asche. Mir kam eine Idee. Ich griff nach einem neben dem Ofen liegenden Stock und schälte die Rinde ab. Dann zog ich an dem einen Ende die Fasern des Holzes auseinander, bis sie eine Art Bürste bildeten. Ich holte eine Hand voll Schnee von draußen und vermischte ihn behutsam mit Asche aus der Blechtonne. Die Farbe war zwar ungleichmäßig, aber es würde ein hübsches Aquarell in Grautönen werden.

75
    Der November brach an. Mutters Augen strahlten und blitzten nicht mehr. Wir mussten uns noch mehr Mühe geben, um sie aufzuheitern. Ihr Lächeln schien nur auf, wenn sie das Kinn gedankenverloren auf eine Hand stützte oder wenn Jonas beim abendlichen Gebet Papa erwähnte. Dann hob sie den Kopf, und ihre Mundwinkel zogen sich hoffnungsvoll nach oben. Ich machte mir Sorgen um sie.
    Abends schloss ich die Augen und dachte an Andrius. Ich sah ihn vor mir, wie er mit den Fingern durch sein strubbeliges Haar fuhr, wie er am Abend vor unserem Abtransport mit der Nase über meine Wange strich. Ich dachte an sein breites Grinsen, wenn er mich in der Brotschlange geneckt hatte. Ich erinnerte mich an den zögernden Blick, mit dem er mir Dombey und Sohn gereicht hatte, und an seine aufmunternden Worte vor der Abfahrt des Lastwagens. Er hatte gesagt, er würde mich finden. Wusste er, wo wir waren? Ahnte er, dass man auf unseren Tod gewettet hatte und lachte, wenn jemand starb? Finde mich , flüsterte ich.
    Herr Lukas sah zum Himmel und meinte, da braue sich ein Sturm zusammen. Ich glaubte ihm – aber nicht wegen des fahlgrauen Himmels, sondern wegen der Aufregung unter den NKWD-Leuten. Sie brüllten, und ihr »Dawai!« klang drängender denn je. Sogar Iwanow saß uns im Nacken. Sonst schrie er seine Befehle stets aus einiger Entfernung, aber an diesem Tag eilte er von Hütte zu Hütte, um dafür zu sorgen, dass alles wie am Schnürchen lief.
    Frau Rimas verhandelte mit ihm, damit er vor dem Sturm die Brotrationen für die nächsten Tage ausgeben ließ.
    Iwanow

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