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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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anderen schrien den Langen an, beschimpften ihn als Egoisten.
    »Ich habe ihn gestohlen. Es war nur ein bisschen. Nur ein bisschen.«
    »Liale mag keinen Fisch«, flüsterte Janina, die sich mit beiden Händen am Kopf kratzte.
    »Juckt es?«, fragte ich.
    Sie nickte. Läuse. Es war nur eine Frage der Zeit, bis unsere ganze Hütte davon wimmeln würde.
    Wir schaufelten abwechselnd einen Weg vom Eingang bis zur Bäckerei, damit wir unsere Ration holen konnten. Ich sammelte Berge von Schnee, der geschmolzen als Trinkwasser diente. Jonas sorgte dafür, dass Mutter ihre ganze Ration aß und genug trank. Sonst hatten wir unsere Geschäfte immer draußen verrichtet, aber wegen des wild tobenden Schneesturms mussten wir es in der Jurte über einem Eimer tun. Dabei kehrten wir den anderen aus Höflichkeit den Rücken zu, aber manche meinten, der Anblick des Hinterteils sei noch schlimmer.

73
    Sobald der Sturm abflaute, trieb uns der NKWD mit Gebrüll wieder an die Arbeit. Wir krochen aus unserer Jurte. Der weiße Schnee hellte die holzkohledunkle Landschaft etwas auf. Ringsumher war alles grau. Man befahl uns, Stämme herbeizuschaffen und zu Feuerholz zu zerhacken. Jonas und ich kamen an einer vollkommen eingeschneiten Jurte vorbei.
    »Nein!«, schrie eine Frau. Ihre Fingerspitzen waren blutig, die Nägel zerschunden.
    »Diese Idioten! Sie haben die Tür so gebaut, dass sie sich nur nach außen öffnet. Durch den Schnee saßen sie in der Falle. Diese Schlappschwänze konnten die Tür nicht ausreißen oder kaputt schlagen!«, sagte Iwanow lachend und klatschte sich auf die Schenkel. »In der Hütte sind vier Tote! Dumme Schweine!«, sagte er zu einem Wachmann.
    Jonas’ Mund stand offen. »Was glotzt du?«, brüllte Iwanow. »An die Arbeit!«
    Ich zog Jonas fort von der weinenden Frau und der eingeschneiten Hütte.
    »Er hat gelacht. Diese Menschen sind gestorben, und Iwanow lacht«, sagte ich.
    »Der erste Schneesturm hat vier Tote gefordert«, sagte Jonas mit gesenktem Blick. »Vielleicht sogar mehr. Wir brauchen Holz. Wir müssen den Winter überstehen.«
    Man teilte uns in Gruppen auf. Ich musste drei Kilometer laufen, um Holz für den NKWD zu finden. In meiner Gruppe war auch der Glatzkopf. Der Schnee knirschte trocken unter unseren Schritten.
    »Wie kann man von mir verlangen, mit meinem kaputten Bein durch diesen Schnee zu stapfen?«, beklagte er sich.
    Ich wollte vorauseilen, denn ich hatte keine Lust auf ihn. Er würde mich aufhalten.
    »Lass mich nicht allein!«, rief er. »Gib mir deine Fäustlinge.«
    »Wie bitte?«
    »Gib mir deine Fäustlinge. Ich habe keine.«
    »Oh, nein. Dann erfrieren meine Hände«, sagte ich. Mein Gesicht war schon jetzt ganz starr vor Kälte.
    »Meine Hände sind schon erfroren! Gib mir deine Fäustlinge. Nur für ein paar Minuten. Du kannst deine Hände ja in die Taschen stecken.«
    Ich dachte daran, dass mein Bruder mir seinen Mantel hatte geben wollen. Sollte ich dem Glatzkopf meine Fäustlinge leihen?
    »Wenn du sie mir gibst, verrate ich dir etwas«, sagte er.
    »Und was?«, fragte ich misstrauisch.
    »Etwas, das du gern wissen möchtest.«
    »Warum wollen ausgerechnet Sie etwas wissen, das mich interessiert?«, fragte ich.
    »Schnell. Gib mir deine Fäustlinge.« Seine Zähne klapperten.
    Ich ging stumm weiter.
    »Gib mir deine verdammten Fäustlinge, und ich verrate dir, warum man euch deportiert hat!«
    Ich blieb stehen und starrte ihn an.
    Er riss die Fäustlinge von meinen Händen. »Nun geh schon weiter, sonst erfrieren wir. Steck die Hände in die Taschen.«
    Wir stapften weiter.
    »Und?«
    »Kennst du einen Petras Vilkas?«, fragte er.
    Petras Vilkas. Der Bruder meines Vaters. Joanas Vater. »Ja«, sagte ich. »Er ist mein Onkel. Joana ist meine beste Freundin.«
    »Ist Joana seine Tochter?«
    Ich nickte.
    »Tja, sie sind der Grund für eure Deportation«, sagte er und rieb die Fäustlinge aneinander. »Deine Mutter weiß es. Aber sie hat es dir verschwiegen. Nun bist du im Bild.«
    »Warum sind sie der Grund für unsere Deportation? Und woher wollen Sie das wissen?«, fragte ich.
    »Es tut nichts zur Sache, woher ich das weiß. Dein Onkel ist vor eurer Deportation aus Litauen geflohen.«
    »Sie lügen.«
    »Ach ja? Deine Tante hat einen deutschen Mädchennamen. Deshalb konnte die Familie deines Onkels fliehen. Man hat sie im Deutschen Reich wahrscheinlich wieder eingebürgert. Dein Vater hat ihnen dabei geholfen. Deshalb hat man eure Familie auf die Liste gesetzt. Deshalb

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