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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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lachte. »Bei Sturm arbeitet ihr nicht. Also verdient ihr auch keine Ration.«
    »Wie sollen wir ohne Brot überleben?«, fragte Frau Rimas.
    »Keine Ahnung. Aber vielleicht weißt du es ja«, erwiderte Iwanow.
    Ich stahl Holz bei den NKWD-Unterkünften. Uns blieb nichts anderes übrig. Wegen des Sturms brauchten wir einen größeren Vorrat. Als ich noch einmal aufbrach, begann es zu schneien.
    Da sah ich sie.
    Hinter den Backsteingebäuden sprach Mutter mit Iwanow und Kretzky. Warum tat sie das? Ich verbarg mich und sah heimlich zu. Iwanow spuckte auf den Boden. Dann trat er dicht an Mutter heran. Mein Herz begann zu hämmern. Er riss eine Hand an die Schläfe und ahmte eine Pistole nach. Mutter zuckte zusammen. Iwanow warf lachend den Kopf in den Nacken und verschwand in einem der Gebäude.
    Mutter und Kretzky standen reglos da. Schnee umwirbelte die beiden. Kretzky legte ihr eine Hand auf die Schulter. Ich sah, wie sich seine Lippen bewegten. Mutter klappte zusammen, und er hielt sie an der Taille fest. Ihr verzweifeltes Gesicht sank gegen seine Brust, und sie schlug mit einer Faust gegen seine Schulter.
    »Mutter!«, schrie ich und rannte zu ihr, wobei das Feuerholz aus meinem Mantel fiel.
    Ich riss sie von Kretzky weg. »Mutter.« Wir fielen auf die Knie.
    »Kostas«, schluchzte sie.
    Ich zog sie an mich, streichelte ihr Haar. Kretzky trat von einem Fuß auf den anderen. Ich sah zu ihm auf.
    »Erschossen. Im Gefängnis von Krasnojarsk«, sagte er.
    Die Luft schien mich von allen Seiten zu bedrängen. Sie drückte mich tief in den Schnee. »Nein. Sie irren sich«, sagte ich und suchte seinen Blick. »Er wird uns holen. Er ist schon unterwegs. Kretzky lügt, Mutter! Man hält Papa für tot, weil er geflohen ist. Er hat meine Zeichnungen erhalten. Er wird uns holen!«
    »Nein.« Kretzky schüttelte den Kopf.
    Ich starrte ihn an. Nein?
    Mutter weinte. Sie drückte ihren bebenden Körper dicht an mich.
    »Papa?« Ich brachte das Wort kaum über die Lippen.
    Kretzky bückte sich, um Mutter aufzuhelfen.
    Da brach mein Hass aus mir heraus: »Lassen Sie sie in Ruhe! Hauen Sie ab! Ich hasse Sie. Hören Sie? ICH HASSE SIE!«
    Kretzky starrte Mutter an. »Ja«, sagte er. »Ich hasse mich auch.« Er ging davon und ließ uns am Boden sitzen.
    Der Schnee begann, uns zuzudecken, und der eisige Wind stach uns wie mit Nadeln in das Gesicht. »Komm, Mutter. Da zieht ein Sturm auf.« Sie konnte kaum gehen, bebte bei jedem Schritt am ganzen Körper und brachte uns immer wieder aus dem Gleichgewicht. Überall wirbelte Schnee und raubte mir die Sicht.
    »Hilfe!«, schrie ich. »Helft uns! Bitte!« Doch ich hörte nur das Heulen des Windes. »Wir müssen im Gleichschritt gehen, Mutter. Wir müssen zurück. Da kommt ein Sturm.«
    Mutter stand da wie erstarrt. Sie sackte in den Schnee und murmelte dabei immer wieder den Namen meines Vaters.
    »Hilfe!«
    »Elena?«
    Das war Frau Rimas.
    »Hier sind wir! Zu Hilfe!«, schrie ich.
    Zwei Gestalten tauchten aus der Wand aus Schnee und Wind auf.
    »Lina?«
    »Jonas! Hilf uns!«
    Mein Bruder und Frau Rimas kamen mit ausgebreiteten Armen durch den Schnee auf uns zu.
    »Ach, du lieber Gott! Elena!«, sagte Frau Rimas.
    Wir schleppten Mutter in unsere Jurte. Dort legte sie sich mit dem Gesicht nach unten auf eine Pritsche. Frau Rimas saß neben ihr, und Janina beäugte sie.
    »Was ist denn, Lina?«, fragte Jonas entsetzt.
    Ich starrte ins Leere.
    »Lina?«
    Ich drehte mich zu meinem Bruder um. »Papa.«
    »Papa?« Seine Miene entglitt ihm.
    Ich nickte langsam, ohne ein Wort hervorbringen zu können. Meinem Mund entwich ein verzerrtes, klägliches Stöhnen. Es konnte nicht wahr sein. Es durfte nicht wahr sein. Nicht Papa. Ich hatte ihm doch die Zeichnungen geschickt.
    Jonas Gesicht veränderte sich. Plötzlich sah er aus wie das Kind, das er im Grunde noch war. Verletzlich. Nicht wie ein junger Mann, der für seine Familie kämpfte und Zigaretten aus Buchseiten drehte, sondern wie der kleine Schuljunge, der am Abend der Deportation in mein Zimmer gerannt war. Er sah erst mich an, dann Mutter. Dann legte er sich neben sie und nahm sie behutsam in die Arme. Durch einen Spalt in der Wand wirbelte Schnee und rieselte auf ihre Haare.
    Janina klammerte sich an meine Beine. Sie summte leise.
    »Das tut mir so leid. So leid«, sagte der Lange.

76
    Ich fand keinen Schlaf. Ich konnte nicht sprechen. Wenn ich die Augen schloss, sah ich Papas zerschundenes Gesicht vor mir, das durch das Abortloch im Waggon

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