Und Jimmy ging zum Regenbogen
ein halbes Gramm da ist. Dabei zerfällt eine ganz bestimmte Menge von Radium-Atomen. Aber
welches
Atom jeweils zerfällt, das wissen wir nicht. Hier geht es nicht anders zu als bei den Sterbetabellen: Zwar ist der Atomzerfall ebenso wie das Sterben kausal bedingt, aber
nicht determiniert,
sondern faßbar nur nach den statistischen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit. Sie müssen also sehr genau unterscheiden zwischen
Kausalität
und
Determinismus!«
Manuel sah Groll in einem Gemisch von Bewunderung und Erschrecken an, während er sagte: »Und wenn nun Ihr Großvater Huber an jenem Tag aus irgendeinem Grund
nicht
zum Dämmerschoppen gegangen wäre? Wenn mein Vater aus irgendeinem Grund am Abend des neunten Januar
nicht
in die Buchhandlung zurückgekehrt wäre, um sich das Buch abzuholen, das er bestellt hatte? Wenn er es gar nicht
bestellt
hätte? Wenn er …«
Groll unterbrach: »Sie reden vom freien Willen.«
»Ja! Vom freien Willen! Den haben wir doch – oder?«
»Wir haben ihn«, sagte Groll, »aber mit dem freien Willen ist es nicht anders als mit dem Zufall.«
»Was heißt das?«
»Der menschliche Wille ist in der Tat frei.« Wieder fiel Asche auf Grolls Weste. Er bemerkte es nicht. »Das hat alles zum erstenmal der große Physiker Max Planck erkannt und durchdacht. Sie kennen ihn natürlich, er hat mit seinen Forschungen über die Quantenphysik einen entscheidenden Beitrag zum Ende des deterministischen Weltbildes geliefert.
Ja,
sagte Planck, der menschliche Wille ist frei! In dem gleichen Augenblick aber, in dem eine Willensentscheidung
so
und nicht
anders
ausgefallen ist, kann ich
wiederum
eine Kausalkette nach rückwärts aufdröseln – und es stellt sich heraus,
warum
ich mich so und nicht anders entschieden habe!«
Nach einer Pause fragte Manuel: »Wird sich je herausstellen, warum mein Vater, warum Valerie Steinfeld, warum sie alle, wir alle, uns so und nicht anders entschieden haben – und entscheiden?«
»Es wird sich herausstellen«, antwortete Groll, die Zigarre ausdrückend. »Es
muß
sich herausstellen, wenn man genügend forscht. Womit ich nicht sagen will, daß es immer gut ist, zu sehr zu forschen. Nicht nur nicht gut – falsch und gefährlich kann es sein.«
»Wie in meinem Fall«, sagte Manuel mit erhobener Stimme. Groll zuckte die Schultern.
»Wie in Ihrem Fall, ja. Warum sehen Sie mich so böse an? Sie haben sich ja schon entschieden, zu forschen, bis Sie die Wahrheit kennen! Die Weichen sind gestellt. Ihr freier Wille läßt Sie weitersuchen, Sie können nicht anders, Sie wollen nicht anders …«
»Nein, ich kann und will nicht anders!« rief Manuel.
»Ja«, sagte der Hofrat. »Ich sehe es, ich höre es. Aber Sie haben auch mich begriffen, nicht wahr?«
»Ich glaube.«
»Zufall und Notwendigkeit«, erklärte Groll, »freier Wille und Zwang – sie sind untrennbar verbunden zu einer Einheit in der Polarität …« Der untersetzte, bescheidene und einsame Chef der Mordkommission senkte den Kopf und blickte auf die Glasplatte seines Schreibtisches und das Blatt darunter mit einem Ausdruck, als fürchte er die Zukunft und alles, was sie noch bringen würde.
24
Die ›Thermopylae‹ wurde 1868 in Schottland gebaut und fuhr als Schnellsegler für den Tee-Handel auf der China-Route. Nun stand ihre Nachbildung auf einem Regal des Bastelzimmers, das sich der vierundsiebzigjährige Anwalt Dr. Forster in einer Turmstube seiner efeubewachsenen Villa eingerichtet hatte. Er bewohnte das obere Stockwerk, sein Sohn und dessen Familie lebten in den unteren beiden Etagen. Das Haus war groß, 1890 erbaut. Es stand in einem verwilderten Garten mit vielen uralten Bäumen. Bäume, alle schwer mit Schnee beladen, säumten auch die Ränder der Sternwartestraße, die im vornehmen, stillen Viertel des Wiener ›Cottage‹ lag.
Forster hatte Manuel zuerst in die helle Bastelstube geführt, welche Fenster nach allen Seiten und einen großen Arbeitstisch besaß. Die ›Thermopylae‹ war 91 Zentimeter lang und völlig originalgetreu im Maßstab 1:96 nachgebaut, Forster präsentierte sie voll Stolz. Er war ein imponierender großer, schlanker und für seine Jahre erstaunlich kräftiger Mann mit immer noch schönen Händen, einem schmalen Gesicht und grauen Augen. Nur noch ganz wenig kurzes, graues Haar hatte er auf dem Schädel, und er besaß nur noch ein Ohr, das linke. Die halbe rechte Gesichtshälfte war verwüstet, zerfleischt, schlecht vernarbt und rot. Forster mußte einen schweren Unfall
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