Und Jimmy ging zum Regenbogen
Forsters Stimme wurde plötzlich laut und leidenschaftlich. »Hier, in dieser Märchenstadt, flogen die ersten Synagogen in die Luft! Im ganzen Großdeutschen Reich wurden hier die Judenverschleppungen am schnellsten und brutalsten organisiert. Bei uns hatte der Judenhaß immer schon die osteuropäische Pogrom-Richtung. 1938, da war diese herrliche Stadt ein Tollhaus! Haben Sie jemals Wochenschau-Aufnahmen der Szenen gesehen, die sich auf dem Heldenplatz abspielten, als Hitler ankam? Ich habe sie gesehen. Ich werde sie nie vergessen! Die Begeisterungsfähigkeit meiner Landsleute in Ehren – aber das grenzte effektiv bereits an Wahnsinn! Oh, die übelsten Faschisten gab es bei uns! Und es gibt sie noch immer!«
Manuel dachte: Dieser Mann redet voll Haß und voll Verzweiflung, und er ist ganz gewiß ein integrer, anständiger und kluger Mensch – wie der Hofrat Groll. Was muß Dr. Forster erlebt haben, um so über sein Land zu reden, um so voller Sehnsucht fort, weit fort sein zu wollen von hier? Er sah den Anwalt an. Die vielen Narben in dessen rechter Gesichtshälfte glühten.
»Es ist schon wieder gut. Aber immer, wenn so etwas …« – er wies auf die Mappe – »… wieder vor mir liegt, wenn ich mich erinnere …«
Er schlug den Umschlag auf.
»Beginnen wir also«, meinte Forster. »Das sind die ersten Unterlagen, wie gesagt. Hier, die allererste! Ich habe den Inhalt von Besprechungen mit Klienten stets sofort einer Sekretärin diktiert, noch in Gegenwart des Klienten.« Forster hob ein Blatt, das gelb vor Alter und eng beschrieben war mit den hohen Typen einer unmodernen Maschine. Er las: »24. Oktober 1942, 10 Uhr 30. Es erscheint Frau Valerie Steinfeld, geboren 6. März 1904 zu Linz, verheiratet, römisch-katholisch, wohnhaft Wien XVIII ., Gentzgasse 50 A, und erklärt …«
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»… daß ich meinen Mann vor vielen Jahren mit einem gewissen Martin Landau betrogen habe. Die Folge dieser Verbindung war ein Kind, mein Sohn Heinz. Ich möchte gerne, daß Sie die Vertretung übernehmen, Herr Doktor, wenn ich jetzt vor Gericht gehe und einen Vaterschaftsprozeß führe.« Valerie saß Dr. Otto Forster im Büro seiner großen Kanzlei am unteren Ende der Rotenturmstraße gegenüber. Man sah den Donaukanal, der sich durch die Stadt zieht, und eine von vielen Brücken. Es herrschte starker Verkehr auf der Marienbrücke an diesem Samstag vormittag. Eine schier endlose Wehrmachts-Kolonne passierte eine überlebensgroße Figur der Mutter Gottes, die aus Bronze gegossen war und matt glänzte.
Soldaten mit ernsten, müden und verschlossenen Gesichtern saßen, dicht gedrängt, auf den Lastern.
Niemand hätte sich vorstellen können, daß alle Brücken über den Donaukanal knapp zweieinviertel Jahre später beim Kampf um Wien von zurückgehender SS ausnahmslos gesprengt werden sollten. Der große, schlanke Dr. Otto Forster mit dem schmalen Gesicht, den grauen Augen und den enganliegenden, wohlgeformten Ohren unterbrach durch eine rasche Bewegung einer seiner schönen Hände den Redestrom Valeries. »Ihr Mann heißt
Paul Steinfeld?«
»Ja.«
»Ich kannte einen Paul Steinfeld.« – Vorsicht! – »Ein, hm, alter Klient … arbeitete bei einer Zeitung. Danach war er lange Radiosprecher, glaube ich …«
»Das ist mein Mann«, sagte Valerie. Sie biß sich auf die Lippe, eben noch rechtzeitig, denn sie hatte hinzufügen wollen: Darum komme ich zu Ihnen, er schickt mich!
Das ging natürlich nicht.
Der Anwalt mußte glauben, daß das, was sie erzählte, der Wahrheit entsprach. Wie sollte er sonst ihre Vertretung übernehmen? Das hatte sie alles genau mit Martin durchgesprochen. Valerie saß sehr aufrecht. Sie trug ein braunes Kostüm, die Jacke mit betonten Schultern, und einen gerade modernen Glockenhut aus Filz der gleichen Farbe. Das blonde Haar quoll unter dem Hut hervor.
»Ihr Mann!« Forster, in seinem zweireihigen Anzug mit dem Fischgrätenmuster, richtete sich auf. »Wir kannten uns lange …«
»Mein Mann hat oft Ihren Namen genannt.« (Das war das Äußerste.)
»Er ist Jude, nicht wahr?«
Valerie mußte schlucken.
»Ja«, sagte sie dann. Und fügte – auch das war mit Martin besprochen – hinzu: »Einer der Gründe wahrscheinlich, warum wir schon fast von Anfang an in unserer Ehe nicht harmonierten. Ich wollte es ja nicht wahrhaben. Meine Eltern hatten es mir prophezeit! Sie sagten …«
Forster winkte ab.
»Was ist mit Ihrem Mann geschehen, gnädige Frau?«
»Er emigrierte nach
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