Und Jimmy ging zum Regenbogen
wenn er sich fürchtete …« Manuel brach ab.
»Was?« fragte Yvonne, über der Decke den Verband auf ihren Bauch drückend.
»Nichts. Er wußte natürlich nicht, wo man ihn ermorden wollte und wie. Oder?«
»Er sagte einmal: Wenn es geschieht, dann werden sie es so einrichten, daß es ganz plötzlich kommt, an einem völlig unsinnigen Ort, daß es aussieht wie eine völlig unbegreifliche Tat.«
»Das hat er gesagt?«
»Ja. Und ich sagte, er sollte doch zur Polizei gehen! Ja,
das
habe ich ihm allerdings oft gesagt. Aber er lächelte nur darüber und meinte, die Polizei könne ihm nicht helfen. Niemand könne ihm helfen. Da glaubte ich natürlich erst recht an einen Tick …«
Manuel drehte sich um.
Er sah Yvonne stumm an.
Dann wanderte sein Blick durch den Raum.
Wahrhaftig, dachte er, ich werde von Büchern verfolgt, von Büchern gejagt! Auch bei Yvonne Werra gab es eine ganze Wand, die durch Bücherregale verkleidet war. Manuel trat näher. Wenig Belletristik, bemerkte er. Sehr viele Philosophen und politische, soziologische und gesellschaftskritische Werke.
Und daneben, seltsam genug, Lyrik! Englische, deutsche, französische, italienische Lyrikbände und Übertragungen aus dem Indischen und Japanischen, aus dem Russischen, Polnischen und Portugiesischen.
»Wie alt sind Sie, Yvonne?«
»So alt wie Sie, glaube ich – fünfundzwanzig.«
»Ich bin sechsundzwanzig.«
»Also fast so alt. Warum? Ach so. Ich nehme an, jetzt kommt die originelle Frage.«
»Welche Frage?«
»Was macht ein Mädchen wie Sie in einem Haus wie dem von Frau Hill? Wollten Sie doch fragen, nicht?«
Er nickte.
»Man muß das Establishment bekämpfen, indem man in seine Kreise eindringt und von ihm lernt und profitiert.«
»Was ist das für ein Unsinn?«
»Das ist gar kein Unsinn!« Sie richtete sich halb auf. »Au! Das habe ich auch Ihrem Vater erklärt. Er hat es verstanden.«
»Was?«
»Weshalb ich mein Philosophiestudium aufgegeben habe und zuerst Barfrau und dann ein Mädchen von Madame geworden bin.«
»Ich verstehe es nicht. Warum?«
»Ekel«, sagte Yvonne. »Ekel und Abscheu.«
»Wovor?«
»Vor unserer Gesellschaft. Dem Establishment. Ich habe einen Freund, ja? Schon seit vier Jahren. Der hat zuerst in Wien studiert. Hoch- und Tiefbau, Architektur. Jetzt ist er in München auf der TH . Robert und ich werden heiraten, sobald er sein Diplom hat und zu arbeiten beginnt. Er besucht mich einmal im Monat. Wenn er kann. Er hat wahnsinnig viel zu tun, als Mitglied des SDS .«
»Des was?«
»Des ›Sozialistischen Deutschen Studentenbundes‹.«
»Ach so«, sagte Manuel. »Ein zorniger, junger Mann, wie? Streiks und Demonstrationen und sit-ins und walk-outs und teach-ins und Rektoratsbesetzungen und Protestmärsche und Prügeleien, ich verstehe.«
»Sie brauchen sich gar nicht lustig zu machen! Robert …«
»Ich mache mich nicht lustig. Das ist keine deutsche oder österreichische Erfindung, Yvonne. Das gibt es überall, auch bei uns in Argentinien. Die Jugend der ganzen Welt ist in Aufruhr.«
»Und sollte sie es nicht sein?« Yvonne setzte sich ganz auf und preßte eine Hand gegen die schmerzende Leber.
»Bleiben Sie liegen!«
Aber sie hörte nicht auf ihn. Leidenschaftlich rief Sie: »Sehen Sie sich diese Welt doch an! Ein Schweinestall! Ich will jetzt gar nicht von den Dingen reden, die die Studenten betreffen – von dem Bildungsnotstand, dem Skandal der Universitäten mit ihrem Muff aus tausend Jahren, der Diktatur der Professoren – nein, ich denke an die Diktatur der herrschenden Klassen, der Apparate, an die Unterdrückung jeder freiheitlichen Bewegung in der ganzen Welt, egal, ob es sich um Weiße oder Schwarze oder Rote oder Gelbe handelt! An den Terror der Machtzentren in Industrie, Wirtschaft, Kultur und Politik! An die Willkür der Massenmedien! Hier arbeitet Robert übrigens. In einer Basisgruppe ›Gedrucktes Wort‹.« Yvonne hatte das alles hervorgesprudelt. Jetzt rang sie nach Luft. Bevor Manuel etwas sagen konnte, redete sie schon weiter. Sie redete eine Viertelstunde lang, ohne sich unterbrechen zu lassen.
Ich kann verstehen, dachte Manuel, daß dieses Mädchen meinen Vater interessiert hat. Und abgelenkt von seiner Todesangst.
Todesangst.
Er hatte sie also die ganze Zeit über in Wien. Er
erwartete
seine Ermordung! Das ist neu. Das ändert wiederum alles. Das bedeutet, daß er bei Valerie Steinfeld dann vor jenen Menschen trat, der den Tod für ihn bereithielt. Einen Tod, der –
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