Und Jimmy ging zum Regenbogen
wie hatte Yvonne gesagt? – ganz plötzlich kam, an einem völlig unsinnigen Ort, damit es so aussah wie eine völlig unbegreifliche Tat!
So sieht es ja auch aus. Aber Valerie Steinfeld hat sich gleichfalls vergiftet. War das auch geplant? Kann man so
etwas
planen? Ist so etwas denkbar?
Denkbar!
Langsam beginne ich, alles für denkbar zu halten in dieser Geschichte, grübelte Manuel.
»… wer ist es denn, der heute Macht hat in dieser Welt? Der Einfluß hat und Geld, der Kriege anzettelt und Katastrophen, der herrscht und unterdrückt und feilscht und betrügt und lügt und verrät und mordet und die Völker versklavt? Ich sehe es doch! Einen besseren Anschauungsunterricht als ich kann
niemand
haben!« Yvonne hatte sich in Feuer geredet. »Alle Regimes, die die Welt ins Unglück gestürzt haben – alle Kirchen, der Kommunismus, der Faschismus –, alle haben ihre Ziele durch die Tabuisierung der Sexualität erreicht! Jede Erektion war ein Sünde! Alle Triebe mußten im Dienst an der Partei oder im Heldentod für das Vaterland ausgetobt werden! Folge? Na, bitte! Impotente! Masochisten! Süchtige! Warme! Fetischisten! Verkorkst, verkommen, verbittert, böse! Eine Horde von Geisteskranken, die bei lebendigem Leib verfaulen – Madames Gäste! Diplomaten! Bankiers! Militärs! Künstler! Psychiater! Industriekapitäne! Kirchenherren! Agenten! Doppel-, Drei- und Vierfachagenten! Intellektuelle und Demagogen! Politiker! Die ganze führende Schicht! Was Sie wollen! Und das läßt sich peitschen und stechen und schlagen und auf die Brust machen und an den Füßen aufhängen! Das steckt sich Federn in den Hintern und muß gekratzt und geritzt und gekitzelt und bespien werden! Und verlangt nach ›Kapuzen‹ und ›Sägen‹ und ›Fünferpyramiden‹ und ›Igel und Hase‹ und ›Sandmännchen‹ und ›Wasserfrauen‹ und …«
»Wonach?« fragte Manuel verblüfft.
»Nach … ach, was soll ich Ihnen das alles erklären! Immer dieselben komplizierten Sauereien. Anders ist das Gesindel doch nicht glücklich zu machen! Unsere Gesellschaft – voilà! Bei Madame erlebe ich sie, Abend für Abend!« Yvonne schwieg, schwer atmend.
»Von dem, was Sie erleben, leben Sie aber sehr gut und müssen nicht schwer arbeiten wie andere Mädchen und haben ein Auto und eine schöne Wohnung …«
»Und ich gebe die Hälfte von allem, was ich verdiene, dem SDS !« rief Yvonne.
»Donnerwetter«, sagte Manuel. Er ließ sich auf einen Hocker fallen und mußte wider Willen lachen.
Yvonne hatte Humor. Sie lachte mit, bis ihre Leber weh tat.
»Aua!«
sagte sie. »Na ja, komisch ist es schon. Wahnsinnig komisch. Das ganze Leben.« Sie wurde ernst. »Sie haben jetzt genauso gelacht wie ihr Vater. Den amüsierte das enorm, als ich ihm davon erzählte. Und weil ich merkte, daß es ihn ablenkt, habe ich natürlich immer mehr erzählt, und ich habe auch übertrieben … weil es ihm doch solchen Spaß machte!«
»Yvonne«, sagte Manuel, »Sie sind ein gutes Mädchen.«
»Ach was«, sagte Yvonne. »Hören Sie damit bloß auf.« Sie lächelte plötzlich und sagte: »Danke.«
Manuel lächelte gleichfalls und sah sich wieder die Bücherwand an.
»Ach ja, und dann die Gedichte«, sagte Yvonne. »Ich liebe Gedichte. Ihr Vater liebte sie auch.«
»Ich weiß.«
»Er war ganz begeistert, als er sah, wie viel Lyrik ich besitze. Ich mußte ihm oft Gedichte vorlesen.«
»Was für Gedichte?«
»Alle möglichen. Durcheinander. Klassisch und modern. Er saß da drüben in dem Lehnstuhl und trank Whisky, und ich saß hier auf der Couch oder auf dem Boden und las ihm vor, was ich besonders gern habe. Ich kann Englisch und Französisch und Italienisch – er konnte diese Sprachen auch. Spanisch kann ich nur schlecht. Wir hatten so ein Spielchen …«
»Was für ein Spielchen?«
»Ich las in der Originalsprache, und dann versuchten wir, das Gedicht ins Deutsche zu übersetzen. Wer die schönere Übersetzung zustande brachte. Das war nett. Nur einmal …«
»Ja?«
»Ach, eine Lächerlichkeit. Nichts von Bedeutung.«
»Was wollten Sie sagen, Yvonne?«
»Wirklich, Herr Aranda, es ist unwichtig.«
»Sagen Sie es trotzdem!«
»Na schön.« Sie legte sich zurück. »Ich habe Kipling gern. Nicht gerade seine nationalistischen Gedichte – aber alle anderen.«
»Ich auch«, sagte Manuel. »Und mein Vater liebte Kipling.« Yvonne nickte.
»Ich habe ihm darum auch viel von Kipling vorgelesen. Englisch. ›The Ballad of East and West‹.
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