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Und Jimmy ging zum Regenbogen

Und Jimmy ging zum Regenbogen

Titel: Und Jimmy ging zum Regenbogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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an, der, völlig entspannt, dasaß und das Buch geöffnet hatte.
    Den Kopf reckend, konnte Mercier die Überschrift des Kapitels erkennen, das der Professor zu lesen begonnen hatte.
    Die Überschrift lautete: ›Das Entzücken vor der Natur.‹

68
    Zierleiten heißt einer der schönsten Wege durch die dem Süden zugewandten Weinberge unterhalb des Wienerwaldes. Schmal ist dieser Weg, uralt, an seinen Rändern stehen verwitterte ›Weinhauer‹-Madonnen, aus Stein geschlagen, hundert Jahre alt und älter. Die Zierleiten führt, vom Waldrand im Westen kommend, mitten durch die Weingüter direkt nach Osten. Geht man sie so entlang, hat man stets die Stadt vor Augen, die in der Tiefe liegt.
    Am Nachmittag des 25. Juni 1922 wanderten zwei junge Menschen über diesen verzauberten Pfad, der immer wieder halb überdacht wird von Brombeersträuchern und Holunderbüschen. Das starke Licht der Sonne ließ hunderttausend Fenster blendend aufleuchten, ließ die Kuppeln von Kirchen und die Gesimse alter Paläste in flammendem Gold erstrahlen. Warm, sehr warm war es, die Rebenstöcke ringsum zeigten dichte, grüne Blätter. Bienen und Hummeln summten. Die beiden jungen Menschen waren in ein ernstes Gespräch vertieft.
    »1918, nach einem vierjährigen Heldenkampf, sind wir vernichtend geschlagen worden, zwei große Reiche – Deutschland und unser Vaterland. Die Tragödie war da«, sagte Karl Friedjung. Er sprach erregt und aufgewühlt, achtzehn Jahre war er alt, ein großer, schlanker Junge mit dichtem, braunem Haar, braunen Augen und einem offenen, sympathischen Gesicht. Er trug ein weißes Hemd, Knickerbockerhosen, Wanderschuhe und eine Windjacke.
    Valerie Kremser ging dicht an seiner Seite, denn der Weg war schmal. Sie trug ein Dirndl. Ihre blonden Haare strahlten im Licht. Sie war so alt wie Friedjung, genauso alt beinahe. In wenigen Wochen standen ihnen die Matura-Abschlußprüfungen bevor.
    »Eines aber«, sagte Friedjung, »hätte diese Tragödie noch zum Segen werden lassen können!«
    »Was, Karl?«
    »Ich erkläre es dir, Valerie …« Er legte einen Arm um ihre Schulter. Sie kannten einander seit einem halben Jahr. Valerie, die bei der Familie ihres Onkels lebte, weil sie nach dem Willen der Eltern ein besonders gutes Lyzeum in Wien besuchen sollte, war schwach in Mathematik und Chemie. Diese Fächer beherrschte Friedjung als Bester seiner Klasse. Er gab Nachhilfeunterricht, denn in diesen schlimmen Zeiten der Inflation war man dankbar, wenn man genug zu essen hatte. Und Karl Friedjung wurde von seinen Schülern und Schülerinnen, zu denen auch Valerie gekommen war, mit Lebensmitteln bezahlt, die er korrekt daheim ablieferte.
    »Schau, 1871, nachdem wir 1866 die Schlacht bei Königgrätz gegen die Preußen verloren hatten, schuf Bismarck sein neues Reich – Großpreußen, Kleindeutschland, ja? Wir Österreicher wurden ausgeschlossen aus der Schicksalsgemeinschaft aller Deutschen. 1918, da hatten wir die einmalige Chance, wieder zueinanderzufinden! Und wir wollten sie ja auch nutzen! Am 12. November 1918, ja, da beschloß unsere Nationalversammlung ein kurzes Staatsgrundgesetz – einstimmig. Valerie!
Mit
den Stimmen der Sozialdemokraten! Danach sollte es nun ein Deutsch-Österreich geben, und dieses sollte ein Bestandteil der Deutschen Republik werden, ja? Schluß mit der kleindeutschen Lösung von 1866! Eine großdeutsche Lösung ist die einzig mögliche! Wir Deutschen gehören zusammen! Wir müssen wieder frei sein! Arbeit und Brot für alle! Kein Schiebertum, kein Elend, keine Ausbeutung – das war 1918 das Ziel!«
    »Aber es ist nicht erreicht worden.« Valerie streifte einen Holunderzweig zur Seite. Alles, was er sagte, war richtig, fand sie. Karl Friedjung machte großen Eindruck auf Valerie – wegen seiner Klugheit, seines Idealismus, seines Wissens. Er betrug sich überkorrekt. Nie hatte er, seit sie ihn kannte, beim Unterricht oder auf ihren Spaziergängen eine Situation ausgenützt. Noch nicht ein einziges Mal geküßt hatte er sie, obwohl sie manchmal schon darauf wartete.
    Und dennoch …
    Und dennoch waren ihr Friedjungs Fanatismus, sein politisches Engagement, so sehr sie beides bewunderte, unheimlich. Manchmal empfand sie Furcht vor ihm. Diesem Martin Landau, dem sie in der Albertina begegnet war, zum Beispiel, hatte sie nie etwas von Friedjung erzählt. Ein Instinkt warnte sie. Martin Landau – das war ein anderer Mensch, eine andere Welt. Valerie hielt ihre Freundschaft zu Friedjung geheim.

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