Und keiner wird dich kennen
Reichweite.
Maja sprintet in die Gegenrichtung los, auf ihre Mutter, auf Elias zu. Stellt sich vor sie, obwohl der Fremde schon verschwunden ist. Obwohl Elias eigentlich zu schwer ist, um ihn zu tragen, hat Lila ihn hochgenommen, und er klammert sich an sie wie ein Affenkind. Maja umarmt sie beide gleichzeitig. Elias, der wie nach zwei Wochen Zeltlager ohne Dusche riecht, schnieft noch immer vor sich hin, und auch Maja laufen Rotz und Tränen über das Gesicht. Das Weinen fühlt sich gut an, es spült die Angst wieder aus ihr heraus.
Als sie sich alle etwas beruhigt haben, sagt Bernd Tellkamp: »Frau Marquart, das war wirklich sehr mutig von Ihnen. Hätte alles auch schiefgehen können, ist es aber nicht, und das ist jetzt das Einzige, was zählt.«
»Was hast du gemacht?«, fragt Maja, und der Schatten eines Lächelns huscht über Lilas Gesicht. »Erst habe ich ihm eine reingetreten, und später hab ich so getan, als wüsste ich nicht, wohin ich laufen soll. Robert hatte zwar das Messer, aber in diesem Moment war mir das nicht so wichtig. Ich wollte einfach nur, dass dieser Albtraum endet, irgendwie.«
Tellkamp nickt. Er wirkt ruhig und beherrscht, sieht aber ein bisschen blass aus. »Wir wollten nichts riskieren, solange der Junge noch bei ihm war. Aber als Barsch dann mit dem Messer ...«
»Ist er tot?«, unterbricht ihn Lila.
Tellkamp nickt.
Maja muss es mit eigenen Augen sehen, dass Robert Barsch wirklich nicht mehr lebt. Vorsichtig löst sie sich von ihrer Mutter und Elias und geht hinüber zu dem unförmigen Etwas dort auf dem Boden unter einer Straßenlaterne. Gerade sind einige der Polizeibeamten dabei, eine Decke darüberzubreiten, vielleicht, um Elias den Anblick zu ersparen. Doch als sie sehen, dass Maja auf sie zugeht, halten sie inne.
»Darf ich ...?«, fragt Maja verlegen, und einer der Beamten scheint zu verstehen, was in ihr vorgeht, er hebt die Decke einen Moment lang an.
Es ist das erste Mal, dass sie einen toten Menschen sieht, und etwas in ihr will zurückzucken, doch dann überwindet sie sich. Es ist zu dunkel, um viel zu erkennen, die große Lache unter der Decke ist wahrscheinlich Blut, sieht aber aus wie Motoröl. Maja zwingt sich, weiter hinzusehen. Verkrümmte Gliedmaßen. Augen, die eher wie Murmeln wirken. Ja. Der ist ganz und gar hinüber. Er sieht etwas anders aus, als sie ihn in Erinnerung hat, aber sie erkennt ihn trotzdem sofort.
Ihr wird nicht schlecht beim Anblick der Leiche. Eher im Gegenteil. Am liebsten würde sie auf seinen Körper spucken, aber ihr Mund ist noch immer viel zu trocken. Also nickt sie den Polizeibeamten zu und wendet sich ab.
Der böse König ist tot, wirklich und wahrhaftig.
In ihr steigt ein Hochgefühl auf, das sie schon lange nicht mehr gespürt hat.
Frei!
Endlich frei!
Geheimnisse
Erst trifft der blaue Sprinter mit Lorenzo ein, dann ein paar Sekunden später ein Notarztwagen mit rotierendem Blaulicht. Elias wird in die nächste Klinik verfrachtet – Lila und Maja dürfen mit in den Notarztwagen, Tellkamp folgt ihnen in seiner Zivilstreife. Krempe, Majas Fahrer wider Willen, bleibt vor Ort, er hebt kurz die Hand zum Gruß und lächelt sogar. »Viel Glück. Man sieht sich.«
Im Flur des Krankenhauses, während Elias untersucht wird, kommt Maja endlich dazu, ihr Handy anzuschalten und Stella anzurufen. Bis sie ihr alles erzählt hat, ist es fast Mitternacht, und es gibt auch gute Nachrichten von den Ärzten: Elias ist zwar etwas dehydriert und steht unter Schock, ist aber ansonsten unverletzt. Er muss nicht im Krankenhaus bleiben.
»Ich fahre euch – wo wollt ihr hin?«, fragt Tellkamp fürsorglich.
»Nach Hause«, sagt Lila einfach, sie hält Elias noch immer in den Armen.
Einen verrückten Moment lang denkt Maja, dass sie Offenbach meint, doch natürlich ist das Blödsinn, eine Viertelstunde später sind sie in der Estostraße.
»Wir haben eine Pressekonferenz gegeben, aber Ihre Adresse hat sich bisher nicht herumgesprochen bei den Medien«, berichtet Tellkamp. »Mit etwas Glück haben Sie eine Weile Ruhe, bis der Zirkus losgeht.« Er verabschiedet sich, nachdem Lila dreimal versichert hat, dass sie heute Nacht unter sich sein wollen und wirklich keine Gesellschaft von Psychologen brauchen. Auch Lorenzo verabschiedet sich erst einmal, er schläft noch eine Nacht bei der Familie Findeisen.
Dafür kommt Stella kurz vorbei, etwas Dickes, Grünes im Arm. »Hier ist ein Kuscheldrache, der seinen Besitzer ganz doll vermisst hat«, sagt
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