Und keiner wird dich kennen
durchs Gesicht wischt, ist auf dem Handschuh Blut. Und das Vorderrad seines Mountainbikes ist hoffnungslos verbogen. Verdammt, jetzt muss er das Ding heimschieben und das kann dauern.
Es ist längst dunkel, als Lorenzo endlich zurück ist. Er spürt seine Füße kaum noch, als er sich die Treppe hochquält. Erleichtert schließt er die Tür auf, zieht seine Jacke aus, will seine Mütze auf den Garderobenschrank werfen ... und sein Blick fällt auf etwas, das dort liegt. Ein Brief für ihn. Aber nicht irgendeiner. Diese Handschrift kennt er. Maja! Der Brief ist von Maja! Lorenzo ergreift ihn, reißt ihn auf, liest die wenigen Worte.
Dann setzt er sich auf das ungemachte Bett in seinem Zimmer. Starrt an die Wand. Der Briefumschlag liegt auf dem Boden.
Wir müssen weg.
Maja ist weg. Warum? Wohin? Was soll das alles?
»Lorenzo, Essen ist fertig! – He, wie siehst du denn aus?!« Laute, die keinen Sinn ergeben. Ein weißes Rauschen in seinen Ohren.
Weg. Wir müssen weg.
Daran zu denken fühlt sich an, als hätte ihn ein Geist berührt. Eine Gänsehaut überzieht seine Arme. Plötzlich steht seine Mutter vor ihm, sagt irgendetwas, greift ihn schließlich am Arm. Lorenzo schüttelt ihre Hand ab, plötzlich wütend. Er wirft die Tür seines Zimmers hinter sich zu, schließt ab und wirft sich wieder aufs Bett.
Weg.
Wohin?
Scheiterhaufen
»Wo sind meine Sachen?«, fragt Robert Barsch, und der Justizvollzugsbeamte blickt ihn kühl an.
»Na, das mit der Höflichkeit hätten Sie üben können hier bei uns.«
»Ich will einfach hier raus, können Sie das nicht verstehen?«
Der Mann nickt und wirkt etwas besänftigt. Robert nimmt seine private Kleidung entgegen und beobachtet, wie der Beamte seine Sachen auf Vollzähligkeit überprüft. »Eine Armbanduhr, Marke Tag Heuer Carrera, ein Geldbeutel schwarz, ein Handy von Nokia, ein Gürtel, schwarz mit silberner Schnalle, Taschenkamm ...«
Alles da. »Danke.« Robert unterschreibt, dass ihm die Sachen ausgehändigt wurden, und zieht seine normale Kleidung wieder an – es fühlt sich gut an, dieses Anstaltszeug endlich loszuwerden. Anschließend bringt ein Beamter ihn zur Zahlstelle, dort nimmt er sein Übergangsgeld entgegen, 2500 Euro in bar. Angespart in den drei Jahren, die er in der Gefängniswerkstatt Kabel gelötet hat. Der reinste Hohn, früher hätte er das in zwei Wochen verdient.
Einer der Mitarbeiter begleitet ihn zur Pforte. »Ich hoffe für Sie, dass wir uns nie wiedersehen«, meint der Mann, wahrscheinlich sein Standardspruch. »Holt Sie jemand ab?«
»Nein – wär nett, wenn mir jemand ein Taxi rufen könnte«, sagt Robert Barsch.
»Kein Problem«, sagt der Mann. »Machen Sie’s gut.«
Die Türschleuse summt und er steht draußen vor dem flachen Betonbau. Widerliches Wetter, brauner Schneematsch, zum Teil vereist, eine Flocke landet auf seinem Mundwinkel. Und er trägt nur eine dünne Jacke, die Verhaftung war im Spätsommer.
Robert stellt sich vor, das Taxi könnte ihn zu Lila bringen, seiner Lila. Er hat sich so nach ihr gesehnt. Wieso nur hat er am Telefon diesen blöden Spruch losgelassen, das mit dem »killen«? Das hat sie doch hoffentlich nicht ernst genommen! Sie wird bestimmt verstehen, dass er sie noch immer liebt und einfach nur will, dass sie zu ihm zurückkommt. Alles wird er ihr verzeihen, die Anzeigen, die lästigen Besuche durch die Polizei, die Jahre im Knast. Wenn sie ihn ein einziges Mal anlächelt, verzeiht er ihr alles ...
Da ist endlich das Taxi. »Nach Marburg, in die Beltershäuser Straße 20«, bittet Robert Barsch den Fahrer.
»Marburg? Das ist aber ’n ordentliches Stückchen! So an die hundert Kilometer. Haben Sie denn die Kohle dafür?«
Schweigend zeigt ihm Robert ein paar Hunderter aus seinem Geldbeutel und endlich fährt der Mann los.
In seiner Eigentumswohnung ist natürlich alles eingestaubt, klar, nach so langer Zeit. Aber sonst alles in bester Ordnung. Und seine früheren Kunden wissen von seiner Homepage nur, dass die Firma Robert Barsch Consulting wegen eines großen Auftrags in den letzten Jahren keine weiteren Anfragen beantworten konnte. Kurz surft er auf seiner Seite vorbei – das stromlinienförmige Logo in Form eines Fisches gefällt ihm noch immer. Wenn er wollte, könnte er die Fäden seines Lebens einfach wieder aufnehmen. Aber er hat erst mal Wichtigeres zu tun.
Als Erstes macht er sich auf den Weg zu der Garage, die er schon vor längerer Zeit unter anderem Namen angemietet hat.
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