Und keiner wird dich kennen
trocken ist, wie sie erwartet hat. Zum Tode verurteilt, macht er sich Gedanken darüber, was ihn erwartet: Unmöglich können wir richtig vermuten, wenn wir glauben, das Sterben sei ein Übel ...
Während der schlimmsten Zeit, ein paar Monate nach Lilas Trennung von Barsch, hat sie manchmal gedacht, dass es besser wäre, gar nicht zu leben, als so zu leben. Doch jetzt schreckt Maja vor diesem Gedanken zurück, als habe sie eine heiße Herdplatte berührt. Niemals könnte sie Lila und Elias so etwas antun. Außerdem wird der Mistkerl sie ja nicht mehr finden, bald sind sie endgültig aus seiner Reichweite!
Irgendwie führen die düsteren Gedanken sie zu Lorenzo. In einer Woche schon wird sie ganz und gar weg sein aus seiner Welt, aus dieser Stadt. Und sie darf sich nicht einmal von ihm verabschieden. Der Gedanke wird immer unerträglicher, er brennt sogar die Tränen weg. Sie würde alles dafür geben, wenn sie ihn noch ein einziges Mal sehen könnte. Ist das so viel verlangt? Sie wird ja nicht bei der alten Wohnung vorbeigehen, obwohl sie furchtbar gerne ihren Datenstick geholt hätte. Und natürlich wird sie auch nicht ihr Handy benutzen. Dadurch ist das Risiko minimal.
In Maja wächst ein Plan und auf einen Schlag schöpft sie wieder Hoffnung. Wenn sie spätnachts noch mal rausschlüpft, könnte sie zu seinem Haus fahren und sich mit ihm treffen ... im Flur hängt der Ersatzschlüssel, den kann sie nehmen ... keiner wird merken, dass sie überhaupt weg war ... es schneit ja ein bisschen, innerhalb von ein paar Stunden sind ihre Spuren weg ... wenn sie Steinchen an sein Fenster wirft, wacht er garantiert auf ... er wird da sein, unter der Woche darf er ja nur bis elf weg ...
Fast kann sie Lorenzos Kuss schon auf ihren Lippen spüren und ihr ist nach Lachen und Weinen gleichzeitig zumute. Ja! Ja, verdammt! Das Risiko muss sie einfach eingehen. Vielleicht ist heute Nacht die letzte Chance. Wenn die neuen Papiere da sind, ziehen sie sofort um in eine weit entfernte Stadt, dann ist es zu spät, dann wird sie Lorenzo nie wiedersehen.
Elf Uhr abends. Endlich legt sich auch Lila hin.
Maja liegt angezogen im Bett, Elias’ kleiner Körper ist warm und ein wenig schwitzig neben ihr. Um diese Uhrzeit schläft er immer unglaublich tief, es ist fast unmöglich, ihn zu wecken. Maja starrt in die Dunkelheit, lauscht auf Elias’ Atemzüge. Wartet. Dann endlich geht unten der Fernseher aus, sie hört die Schritte von Frau Singerl auf der Treppe. Wasser läuft im Badezimmer, dann knarrt nebenan das ehemalige Ehebett.
Zur Sicherheit wartet Maja noch eine halbe Stunde, dann hört sie Frau Singerls feuchtes, rasselndes Schnarchen. Scheußlich. Früher hat sie gedacht, dass nur Männer schnarchen.
Fast lautlos schlägt Maja die Decke zurück, steht auf und schleicht die Treppe hinunter. Zieht ihre Winterjacke über, schlüpft in die Stiefel. Um diese Uhrzeit fahren blöderweise nicht viele Busse, aber Frau Singerl hat im Schuppen ein Fahrrad.
Majas Atem geht schnell. Nichts wie los ..
Lorenzo entscheidet sich für eine schwarze Hose und einen blauen Hoodie. Das Ding müsste zwar mal wieder gewaschen werden, aber egal, für heute genügt er. In den Rucksack stopft Lorenzo eine Taschenlampe und den Satz Dietriche.
Zum Glück ist sein Fahrrad schon repariert. Diesmal fährt er noch langsamer und vorsichtiger, der Neuschnee ist verflucht rutschig. Es dauert, bis er wieder vor Majas Haus steht. Absichtlich hat er bis nach der Dämmerung gewartet, denn jetzt würde er sehen, wenn in der Wohnung Licht ist. Lange Minuten steht er da, den Kopf in den Nacken gelegt, und späht nach oben. Noch kann er nicht glauben, dass die Familie Köttnitz ganz und gar verschwunden ist. Aber es scheint fast so, sämtliche Fenster sind dunkel. Obwohl er es erwartet hat, ist das trotzdem schwer zu ertragen.
Jetzt könnte er seinen Plan in die Tat umsetzen. Lorenzo tastet nach den Dietrichen in der Tasche und bekommt einen Moment lang Angst vor sich selbst. Was soll das? Will er das wirklich? Das ist Hausfriedensbruch, mindestens! Was ist, wenn es schiefgeht?
Egal. Er muss herausfinden, was mit Maja los ist, nichts anderes zählt mehr. Um sich am Nachdenken zu hindern, klingelt er bei einem der anderen Hausbewohner. »Ja?«, tönt es blechern durch die altmodische Sprechanlage. »Entschuldigen Sie die Störung«, sagt Lorenzo in die Sprechanlage, »ich habe meinen Schlüssel vergessen, könnten Sie mich reinlassen?«
Tatsächlich, die Tür
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