Und keiner wird dich kennen
Türen schließen.
Im letzten Moment erreicht Robert den Zug und zwängt sich durch die Tür. Schwer atmend bleibt er einen Moment stehen – jetzt braucht er sich nicht mehr zu beeilen, der Junge kann ihm nicht mehr entkommen.
Als der Kontrolleur bei ihm vorbeikommt, reicht ihm Robert unbekümmert seine brandneue BahnCard 100. Das Ding kostet normalerweise ein paar Tausend Euro, aber dafür kann man ohne Ticket sämtliche Züge nutzen. »Danke – gute Fahrt«, wünscht ihm der Kontrolleur und reicht die Karte zurück.
Es ist eine wirklich gute Fälschung.
Noch immer ist Lorenzo nervös. Sein Nacken kribbelt, als beobachte ihn jemand, doch jedes Mal, wenn er sich umdreht, ist da nichts. So langsam kann er nachvollziehen, wie Maja sich gefühlt haben muss. Wieso hat sie ihm in den Monaten vorher nie etwas von diesem fiesen Stalker erzählt? Hat sie ihm nicht genug vertraut? Hätte sie es ihm noch irgendwann gesagt?
Lorenzo vertieft sich in einen Roman von Robert Harris. Ein paar Stunden lang vergisst er die Welt um sich herum, nur hin und wieder schaut er aus dem Fenster und ihn durchfährt ein heißer Strom der Freude. Bald da, bald bald bald! Bei Maja.
Und dann ist es so weit. »In wenigen Minuten erreichen wir München-Hauptbahnhof«, kündigt eine freundliche Frauenstimme an, und mit klopfendem Herzen packt Lorenzo seine Sachen zusammen. Seine Kamera hat er daheim gelassen, Maja hat ihn darum gebeten. Das Handy ist jetzt am wichtigsten, das darf er auf keinen Fall verlieren – über das Prepaid wird ihm Maja jetzt gleich Anweisungen geben und ihn zum endgültigen Treffpunkt dirigieren. Eine Vorsichtsmaßnahme. Kaum ist er draußen aus dem Zug, wählt er ihre Nummer. »Ich bin am Hauptbahnhof«, sagt er.
Majas Stimme klingt nüchtern. »Gut. Jetzt gehst du nach links, die Rolltreppen runter und steigst in irgendeine S-Bahn Richtung Ostbahnhof. An der Station Stachus steigst du aus ...«
Lorenzo will sagen, wie sehr er sich auf sie freut, doch Maja klingt so konzentriert, so leidenschaftslos, die Worte bleiben ihm auf der Zunge kleben. Na gut. Wenn sie sich gefunden haben, ist noch genug Zeit für Wiedersehensfreude.
»Denk dran, dich ab und zu umzuschauen«, sagt sie jetzt. »Sieh dir die Leute an. Wenn du jemanden mehrmals bemerkst, ist das verdächtig ...«
»Hey, Maja.« Jetzt langsam verliert Lorenzo doch die Geduld. »Komm ein bisschen runter, ja? Ich bin kein Kindergartenkind.«
Immerhin, sie lenkt sofort ein. »Sorry, ich weiß ... ich bin nur so unruhig ... kannst du das verstehen?«
»Ja, klar verstehe ich das, schon okay, gleich bin ich bei dir«, murmelt Lorenzo und sieht sich pflichtbewusst um. Alles in Ordnung. Wenn er sich nicht irrt, war dieser Typ dort mit dem Dreitagebart und der dunklen Jacke auch im Zug, aber das hat ja nichts zu bedeuten, die Leute aus dem ICE verteilen sich vom Bahnhof aus in der ganzen Stadt.
»Du steigst jetzt bitte in die U4 Richtung Odeonsplatz. Falls es in der U-Bahn keinen Empfang gibt, sage ich dir jetzt schon mal, was du tun sollst ... steig am Odeonsplatz aus, geh die Treppen hoch, bis du auf dem Platz bist, schau dich noch mal um und geh durch einen anderen Eingang in die U-Bahn zurück. Dann fährst du zurück zum Stachus ...«
Lorenzo kann einen Seufzer nicht unterdrücken. Das klingt alles höllisch kompliziert. »Das ist aber der letzte Umweg, oder?«
»Bitte«, sagt Maja hilflos, und Lorenzo, weiß, was sie meint. Er soll aufhören zu meckern und einfach tun, was sie sagt. Wahrscheinlich hat sie stundenlang über Fahr- und Stadtplänen gebrütet, um den Plan zu entwickeln. Orte ausgekundschaftet, an denen sie unbeobachtet sein können, sich Sorgen, Sorgen und noch mehr Sorgen gemacht. Und er braucht nichts weiter zu tun als mitzuspielen. Das ist wirklich nicht zu viel verlangt.
Odeonsplatz. Wie vereinbart steigt Lorenzo aus und quasi als Wiedergutmachung schaut er sich gründlich um. Keine Verfolger. Hat er sich schon gedacht. Auch der Typ mit der dunklen Jacke ist jetzt nicht mehr da.
Ein Stück entfernt von dem Jungen steigt Robert aus. Als sich dieser umblickt, ist Robert froh, dass er sich eben noch einmal umgezogen hat. In einem anderen Wagen der S-Bahn hat er rasch die Jacke gewendet, sodass der beige Innenstoff jetzt auf der Außenseite liegt – weil das mit dieser Jacke möglich ist, hat er sie überhaupt gekauft. Anschließend hat er sich eine Wintermütze übergezogen und eine Brille aus Fensterglas aufgesetzt. Kostete ihn
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