Und keiner wird dich kennen
kaum zwei Minuten. Auf gar keinen Fall darf der Junge merken, dass ihm jemand auf den Fersen ist, sonst führt er ihn nicht zum Ziel!
In vorsichtiger Entfernung schlendert Robert ihm nach. Jetzt sind sie vermutlich bald da, weil es zu Fuß weitergeht. Bald da! Jagdfieber hat ihn gepackt, in seiner Jackentasche schließt sich seine Hand um den glatten, kühlen Griff des Messers. Sollen sie nur versuchen, ihn aufzuhalten!
Sie sind jetzt auf einem großen Platz – rechts von ihm eine knallgelb gestrichene, schnörkelig verzierte Kirche, links von ihm eine Art säulenverzierter Triumphbogen. Als wäre er ein gewöhnlicher Tourist, bleibt Robert stehen und wirft einen Blick auf den Stadtplan – aha, das Bogen-Ding heißt Feldherrnhalle – und behält gleichzeitig den Jungen im Auge.
Was macht der verdammte Kerl denn jetzt? Eben noch ging er ganz gleichmäßig die Straße hinunter und jetzt marschiert er auf einmal dermaßen schnell. Dieser Junge kostet ihn noch den letzten Nerv! Robert versucht, die Karte zusammenzufalten, doch das Ding weigert sich, spreizt sich in seinen Händen, als hätte er einen Wildvogel gefangen. Fluchend knüllt er es einfach zusammen. Alarmiert merkt er, dass der Abstand zwischen ihnen größer wird, der Junge ist schon fünfzig Meter entfernt. Robert beschleunigt seine Schritte, die Augen fest auf sein Ziel gerichtet ... er wird es schaffen, er bleibt an dem Jungen dran ...
Jemand schreit auf, dann trifft ihn irgendetwas hart von der Seite. Bevor Robert begriffen hat, was los ist, liegt er schon auf dem Asphalt, japst nach Luft und hört Metall scheppern. Neben ihm liegt ein Fahrrad, dessen Räder sich noch drehen, und eine ältere Frau in geblümter Bluse steht mühsam auf. »Sind Sie denn narrisch! Können Sie denn nicht gucken, wo Sie hinlaufen, Sie Depp!«
»Sie haben mich umgefahren und jetzt soll ich mich entschuldigen?«, brüllt Robert und verpasst dem Rad einen heftigen Fußtritt, er würde es am liebsten zerstampfen und die Frau gleich dazu. Hektisch suchen seine Augen nach dem Jungen, finden ihn nicht, verdammt, wo ist er denn auf einmal abgeblieben?
Fluchend rafft er sich auf und hinkt weiter, so rasch er kann, ohne die alte Frau eines weiteren Blickes zu würdigen. Sie keift ihm hinterher, aber er hört es kaum. Da! Da ist er! Noch hat er ihn nicht verloren. Leichtfüßig läuft der Junge gerade die Stufen zur U-Bahn hinunter. Schon wieder eine Finte! Dieser verfluchte Hund!
Robert rennt los, quer über den Odeonsplatz, muss noch ein paar Radfahrer vorbeilassen, stolpert schließlich die Rolltreppe hinunter und stößt dabei zwei junge Frauen aus dem Weg, die sofort anfangen zu schimpfen wie Hühner, denen man eine Feder ausgerissen hat.
Keuchend kommt er auf dem Bahnsteig an – gerade in dem Moment, als die U-Bahn aus der Station rauscht. Zu spät! Der Mistkerl hat ihn abgeschüttelt! Hasserfüllt starrt Robert der Bahn hinterher und umklammert den Messergriff in seiner Tasche.
Für den Moment hat er verloren. Doch nun weiß er, in welcher Region Lila und ihre Kinder leben. Seine Chancen, sie wiederzusehen, sind besser denn je.
Und jetzt ist er hier, im Gepäck Laptop, Zahnbürste und zwei frische Unterhosen. Und er hat nicht vor, allzu schnell wieder abzureisen.
Vor Lorenzo ragt ein wuchtiges Gebäude aus braunem Stein auf, das ein bisschen wie eine Festung aussieht. Gasteig steht daran.
»Im Erdgeschoss ist ein kleines Café«, sagt Maja, jetzt scheint ihre Stimme ganz leicht zu zittern. »Da schaust du dich mal wieder gründlich um ... und vielleicht siehst du jemanden, den du kennst.«
Mit langen Schritten legt Lorenzo die letzten Meter zurück, stößt die Glastüren des Gebäudes auf. Schaut sich in dem kleinen Café um, sein Herz pocht so heftig wie nach einem Sprint. Da, an diesem kleinen Tischchen in der Ecke ... dieses blonde Mädchen mit dem bunten Schal ... ist sie das? Ja, das ist sie, ja, verdammt, das ist Maja !
Strahlend tritt er an ihren Tisch und lässt seinen Rucksack von der Schulter gleiten, damit er sie besser umarmen kann.
Glück und Unglück
Wunderbar warm und lebendig fühlt Lorenzo sich an, jetzt erst kann sie daran glauben, dass er wirklich da ist, hier bei ihr. Er hält sie so fest, dass Maja fast die Luft ausgeht, und weil er so groß ist und sie dabei hochhebt, pendeln ihre Füße über dem Boden. Maja muss lachen, nimmt sein Gesicht in beide Hände und macht sich an das, was sie schon so lange vorhatte – jede seiner
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