Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und manche liebe Schatten steigen auf

Und manche liebe Schatten steigen auf

Titel: Und manche liebe Schatten steigen auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Reinecke
Vom Netzwerk:
größeren Werke zu wirklicher Formvollendung herauszugestalten. Sein unermüdlicher Fleiß strebte fieberhaft danach, ein eben begonnenes Werk rasch abzuschließen, anstatt es in Ruhe der Vollendung entgegenreifen zu lassen. Er mochte sich dies wohl im Geheimen selbst gestehen. Aber er arbeitete trotz dessen unverändert in seiner Weise weiter. Es konnte ihm selbstverständlich nicht verborgen bleiben, dass seine Opern nach und nach von den Bühnen, seine Orchesterwerke und Oratorien aus den Konzertsälen verschwanden, und das machte ihn zum Misanthropen. Während so manche Virtuosen, die ihm nicht gleichkamen, frohgemut die Welt durchstreiften und sich in ihrer eigenen Virtuosität sonnten, wurde sie ihm , dem hochstrebenden Künstler, eine Last, die er widerwillig trug. Wie bitter er es empfand, dass Publikum und Kritik seinen größten Werken wenig Sympathie entgegenbrachten, geht aus dem folgenden Briefe hervor, den ich als sehr bezeichnend für die Stimmung des großen Künstlers aus der Reihe seiner an mich gerichteten Briefe mitteile:
     
    St. Petersburg, den 14./25. April 1887
     
    Lieber Reinecke!
    Herzlichen Dank für die ehrende Widmung und freundliche Zusendung Ihrer Ouvertüre „Zenobia“; wohl möchte ich mich revanchieren, aber es wird wohl nichts draus werden, da ich das Komponieren aufgeben will – ich habe sehr viel geschrieben und meine Kompositionen gefallen eigentlich nur mir allein, und das ist denn doch schließlich kein genug triftiger Grund, um noch mehr zu schreiben.
    Also nochmals herzlichen Dank und mit besten Grüßen Ihrer Frau und Ihnen.
    Ganz der Ihrige
    Ant. Rubinstein.
     
     
    Seltsamerweise hatte Rubinstein zwar eine hohe Achtung vor Brahms, aber wenig Sympathie für dessen Werke, was schon daraus hervorging, dass er in den sieben Abenden, in denen er die Geschichte und Entwicklung des Klavierspiels von den ersten Anfängen bis zur Gegenwart durch seine Vorträge praktisch demonstrierte, kein einziges Werk von Brahms vorführte. Auch erzählte er einst: „In der vorigen Woche habe ich in Petersburg zwei Requiems gehört, ein lateinisches, das nicht eben geistreich, aber sehr amüsant war, und dann ein deutsches, welches ungeheuer geistreich, aber recht langweilig war.“ Es waren Verdis und Brahms' Requiems.
      Rubinsteins Erscheinung zeigte sofort, dass man einem bedeutenden Menschen gegenüberstand. Sein Kopf mit dem üppigen Haupthaar erinnerte an den Beethovens, seine gedrungene Gestalt zeugte von Kraft und Energie, seine Bewegungen waren unbekümmert, natürlich und bequem und hatten in seinen reiferen Jahren sogar etwas Bärenhaftes an sich. Er sprach vier Sprachen fließend, liebte die Geselligkeit (aber es mussten Damen an der Tafelrunde sein), spielte außer Klavier auch gerne Whist, hörte mit großem Vergnügen eine hübsche Anekdote, einen guten Witz erzählen und war dann immer ein sehr dankbarer Zuhörer, denn er lachte unbändig und – vergaß alle derartigen Schnurren so rasch und vollständig, dass man ihm dieselben Jahr für Jahr wieder erzählen konnte, ohne dass er ahnte, dass er sie schon einmal gehört und belacht hatte. - Er hatte die bei einem Musiker selten zu findende Eigenschaft, dass er ungern Proben hielt. Führte er ein neues Orchesterwerk von sich auf, so war er sofort nach der ersten Probe mit allem zufrieden, und wenn ich ihn himmelhoch bat, dies oder jenes zu wiederholen, und wenn das Orchester ungeduldig darauf wartete, dann sagte er: „Was wollen Sie? Es kann ja gar nicht besser gehen!“ Freilich musste er auch hier und da die bösen Folgen so leichtsinnigen Probierens spüren. Bei einer Aufführung seines Oratoriums „Der Turmbau zu Babel“ geriet das Orchester infolge der ungenügenden Proben gleich zu Anfang ins Schwanken, und bald war es aus Rand und Band. Rubinstein wandte sich an den neben ihm stehenden Solisten, den Sänger Schelper, mit den Worten: „Haben Sie einen Sohn, Herr Schelper?“ - „Sogar zwei.“ - „Lassen Sie den Jungen um Gottes willen nicht Musiker werden“ - sprach`s, klopfte aufs Pult und fing von vorn wieder an. Er ermunterte überhaupt selten zur Karriere des Musikers, und als eine junge Dame ihm einst vorgespielt hatte und ihn fragte, ob sie weiter studieren solle, packte er sie beim Arm und rief: „Heiraten Sie!“
     
     

Joseph Joachim
     
     

 Am Abend des 16. November 1843 schritt ich den kurzen Weg von meiner Wohnung zum alten Gewandhaus in Leipzig; es war für mich ein bedeutsamer Weg, denn

Weitere Kostenlose Bücher