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Und meine Seele ließ ich zurueck

Und meine Seele ließ ich zurueck

Titel: Und meine Seele ließ ich zurueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari
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zurück zu sich nach Hause kehren und seine Mutter wiedersehen könne, er hätte alles, was dieser hätte hören wollen, ausgesagt. Seine Folterknechte von der Gestapo hätten dies wissen müssen, hätten ihm die Atempause zugestehen müssen, die ihnen seine Seele aufgeschlossen hätte, was er jedoch zugeben hätte können oder auch nicht, war ihnen völlig gleichgültig, sie wollten ihn schlichtweg nur erproben und bestrafen. Sie bedurften keiner Information mehr, da Charles Lézieux eine Stunde vor ihm bereits festgenommen worden war, im Moment, als er sich anschickte, ihn zu treffen, und ein Geheimnis, das zu schützen gewesen wäre, hatte es nie gegeben.
    Während all dieser Jahre hatte er nicht mehr wirklich daran zurückgedacht: die Kriege, die er führte, hatten ihm keine Zeit dazu gelassen und die zehn Monate, die er in Buchenwald war, breiteten sich hinter ihm aus wie eine unermesslich weite, gräuliche Steppe, die sein Leben in zwei teilt und ihn für immer von dem verlorenen Kontinent seiner Jugend trennt, aber vergessen hat er nicht. Der Monat Juni 1944 hat sich heimlich in sein Fleisch eingenistet, um in ihm den Abdruck eines unvergänglichen Wissens einzuschreiben, das ihm erlaubt, seinen Unteroffizieren zu erklären: »Meine Herren, das Leiden und die Angst sind nicht die beiden einzigen Schlüssel, die uns die menschliche Seele aufschließen. Sie sind sogar manchmal uneffektiv. Vergessen Sie nicht, dass es ihrer auch andere gibt. Heimweh. Hochmut. Traurigkeit. Scham. Liebe. Achten Sie aufmerksam auf denjenigen, der Ihr Gegenüber ist. Versteifen Sie sich nicht unnötig. Finden Sie den Schlüssel. Es gibt immer einen« – und er hat jetzt die absurde und unzumutbare Gewissheit, dass er neunzehnjährig aus keinem anderen Grunde verhaftet worden war, als um zu lernen, wie ein Einsatz zu erfüllen wäre, den man ihm dreizehn Jahre später in Algerien überantworten sollte. Dies aber kann er Tahar nicht mitteilen.
    – Sie selbst wurden 1944 befragt, wiederholt Tahar. Ja, verstehe, jetzt verstehe ich.
    Sein achtsames und ehrlich betrübtes Gesicht reizt Capitaine Degorce.
    – Es sind Ihre Methoden!, sagt er schroff. Es sind Ihre Methoden, die uns zwingen ...
    Er drückt die Zigarette auf dem Boden aus und wirft die Kippe in eine Zellenecke.
    – Sie lassen uns keine Wahl!, sagt er und hält sich erneut noch im letzten Moment zurück, hinzuzufügen: »Was soll man denn machen?«
    – Das ist merkwürdig, murmelt Tahar verträumt.
    – Was ist merkwürdig?
    – Ja, das ist merkwürdig, fährt Tahar fort, wissen Sie, ich, ich war mir sicher, dass wir es sind, denen hinsichtlich der Methode keine Wahl bleibt.
    Capitaine Degorce betrachtet ihn sehr lange.
    (Die Logik kann sich wenden wie ein Handschuh. Die Lüge. Die Wahrheit.)
    Er hat seine Ruhe wiedererlangt. Er will nicht mehr über den Krieg sprechen. Man hatte Tahar die Schuhe abgenommen und er trägt gestopfte Strümpfe. Capitaine Degorce ist davon merkwürdig irritiert.
    – Ich habe Sie es bislang gar nicht gefragt: Möchten Sie einen Tee oder Kaffee? Möchten Sie sich waschen? Ich sage es Ihnen im Vorhinein, der Kaffee schmeckt furchtbar ...
    Ein Soldat betritt die Zelle: Mon Capitaine? Sie werden gerufen. Der Colonel verlangt nach Ihnen am Telefon. Capitaine Degorce erhebt sich.
    – Ich werde wiederkommen, sagt er zu Tahar.
    Er wendet sich dem Soldaten zu. Sie bleiben hier bei ...
    Er weiß nicht, wie er Tahar nennen soll. Er möchte nicht »dem Gefangenen« sagen, auch nicht seinen Kriegsnamen benutzen oder ihn »Monsieur« nennen.
    – Wie lautet Ihr Dienstgrad bei der ALN?, fragt er Tahar.
    – Ich bin Colonel der ALN.
    – Sie bleiben bei Colonel Hadj Nacer, hebt er erneut an, und sorgen Sie dafür, dass er erhält, was er benötig. Und geben Sie ihm seine Schuhe zurück, wenn er es wünscht.
    *
    – Wissen Sie eigentlich, in was für eine beschissene Situation Sie uns gebracht haben, Degorce? Ist es Ihnen klar? Ich hoffe, dass Sie eine miserable Nacht gehabt haben, eine richtig miserable Nacht, wie ich. Was werden wir bloß mit ihm anstellen, mit ihrem Hadj Nacer? Ich schwöre Ihnen, es wäre mir lieber gewesen, er hätte bei seiner Festnahme etwas Widerstand geleistet, dieses Dreckschwein, das hätte unsere Zwecke erfüllt, glauben Sie mir ...
    – Ich verstehe nicht so recht, Herr Colonel: Sie waren gestern doch sehr zufrieden.
    – Ja, gut, ja ja, so ist das Leben, alter Knabe, man ist zufrieden und dann ist man es nicht mehr ... So ist das

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