Und meine Seele ließ ich zurueck
... Man denkt nach ... Man sieht die Dinge in einem anderen Licht ... Aspekte, die man bislang nicht bedacht hat ... Komplikationen ... Guter Gott, das ist doch so schwierig nicht zu verstehen! Denken Sie denn nie nach, Mann?
(Man hat dem Trottel den Kopf gewaschen.)
– Kann vorkommen, mon Colonel.
– Und Hadj Nacer, wie ist er drauf? Deprimiert?
– Sie haben ihn gestern gesehen, Herr Colonel. Nein, er ist nicht deprimiert. Natürlich nicht.
– Und die Sicherheit? Besteht kein Risiko, dass er ausbricht? Oder es versucht?
– Nein, mon Colonel.
– Sicher? Absolut sicher?
– Ja, mon Colonel. Ganz sicher.
– Gut ... Gut ... Sehr gut ...
– Wann wünschen Sie, dass ich ihn der Justiz übergebe, mon Colonel? Sobald das erledigt ist, haben wir kein Problem mehr.
– Ich bitte Sie nicht um Ihre Meinung, Degorce. Ich werde Sie im Laufe des Tages noch einmal anrufen, um Ihnen Anweisungen zu erteilen.
*
Die Morgenpost. Jeanne-Marie. Seine Eltern. Marcel. Capitaine Degorce berührt die Umschläge und erneut erscheint ihm das Bild von Claudie, diesmal so unglaublich klar: Sie liegt ausgestreckt in einem Bett unter schweren, weißen Decken, die Nasenlöcher verkniffen in ihrem leichenblassen Gesichtchen, die Augen umrandet von einem blauen Schatten und ein aufgerollter Rosenkranz um ihre steifen Finger. Ihre Großeltern stehen um sie herum, ihre Onkel und Tanten, ihre Mutter, die Jacques an der Hand hält, und selbst Marcel, in bester Verfassung, der, man weiß nicht wie, seiner afrikanischen Verfluchung entkommen ist; als Einziger fehlt er selbst und seine Abwesenheit ist so natürlich, dass sie niemand bemerkt. Er ist vielleicht noch in Algerien, vielleicht in einem angrenzenden Zimmer, wo seine Schuld ihn für immer eingesperrt zurückbehält. Seine morbiden Träumereien sind mechanisch geworden, sie verängstigen ihn nicht mehr wirklich, obwohl er sich nicht davon abhalten kann, sich ihnen hinzugeben.
(Mein Gott, mein Gott, welch Erbarmen ...)
Er öffnet die Briefe und überfliegt einen nach dem anderen.
»André, mein Kind, mein Geliebter, Claudie und Jacques sind heute besonders mühsam, es ist für sie wirklich wichtig, dass ...«
»Mein geliebter Sohn, die Gesundheit Deines Vaters, der bis jetzt ...« »... und dieses Mal ist es ein furchtbarer Durchfall, der mir keine Ruhe lässt und mich unendlich ermüdet ...«
Wofür all diese Nachrichten? Was gehen sie ihn noch an? Was soll er mit ihnen anfangen? Er würde lieber keine Briefe mehr erhalten. Keine mehr schreiben. Er wäre gern zurückversetzt in den Frühling 1955, ins Hotel in Piana. Er schlackerte damals noch in seinen Kleidern, sein Magen bereitete ihm Leiden, sobald er etwas zu Schweres gegessen hatte, aber der Himmel war so klar. Claudie hatte sich ihren Knöchel verrenkt, als sie durch den Sand gelaufen war, und er hatte ihr sanft den Fuß massiert, während sie ihn anschaute und dabei von Zeit zu Zeit ihr Gesichtchen verzog vor Schmerz, woraufhin er mit mitleidsvollen Ausrufen reagierte, die sie zum Lachen brachten.
»... und wir versichern Dich unserer Zuneigung ...«
»... André, wir lieben Dich so sehr ...«
In Piana war sein Herz nicht leer. Er hatte sich seiner nicht geschämt.
»... und Würmer in den Augen, lebendige Würmer, die wie Tränen hervorbrechen.«
*
Ein kleiner Araber von gut zehn Jahren sitzt auf einer Bank im Flur. Ein vor ihm kniender Soldat macht einen Zaubertrick. Eine Fünf-Franc-Münze verschwindet zwischen seinen Fingern, um in seinem Mund wieder aufzutauchen oder hinter dem Ohr des Kindes, das ganz große Augen macht.
– Wer ist dieser Bengel?, fragt Capitaine Degorce.
– Der Sohn eines Verdächtigen, mon Capitaine.
Moreau kommt aus dem Befragungsraum und zieht den Capitaine ein wenig zur Seite.
– Der Typ, den ich mir heute Morgen rausgefischt habe, mon Capitaine, hat gesungen. Handfestes, denke ich.
– Er hat gesungen? So schnell?
– Ja, mon Capitaine, war aber nicht wirklich schwierig, wissen Sie. Ist ein Muskelprotz, vom eher schreckhaften Typ, also habe ich vor seinen Augen den Generator, die Elektroden und den ganzen Kram hervorgeholt, habe einen Burschen gebeten, es anzuschalten, um zu sehen, ob alles läuft, man hat einen Eimer Wasser angeschleppt, Schwämme, und ich habe dem Burschen erklärt, dass es, da er ja so viele Muskeln habe, meiner Meinung nach gar nichts nützen würde, ihn zu bearbeiten, dass ich mir sicher sei, dass er mutig wäre und nicht singen würde, gut, Sie sehen,
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