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Und meine Seele ließ ich zurueck

Und meine Seele ließ ich zurueck

Titel: Und meine Seele ließ ich zurueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari
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worauf es hinausläuft, und ich habe zu ihm gesagt, dass ich, da wir nur ungern Zeit verlieren, auch seinen jüngsten Sohn habe schnappen lassen und dass wir uns gleich gemeinsam ansehen werden, wie der die Tortur aushalten würde, der Knirps, und wir haben ihn in den Raum kommen lassen, ich hatte gerade genug Zeit, zu ihm zu sagen Wir werden dir jetzt dein Hemd und deine Hose ausziehen, mein Kleiner, wie am Strand, um deinem Vater etwas zu zeigen, und der Typ hat gesagt, dass er reden werde, und bitte, er hat sich problemlos geöffnet. Wir mussten ihn beinahe zwingen, aufzuhören zu sprechen! Samtweich, mon Capitaine.
    – Na bitte, Moreau, sagt der Capitaine. Sie werden noch ein richtiges As in Psychologie, wie? Und also?
    – Nun, mon Capitaine, er hat uns jemanden geliefert. Ein Typ, der im Hafen arbeitet. Ein Syndikalist. Lagerverwalter, glaube ich. Oder Buchhalter. Ein Roter. Franzose, mon Capitaine.
    – Sie alle sind Franzosen, Moreau.
    – Oh, mon Capitaine, Sie wissen genau, was ich meine!
    – Ja, Moreau. Ich weiß es. Gut, Sie werden ihn mir herholen. Und wenn er hier ist, lassen Sie mich rufen.
    – Schon unterwegs, mon Capitaine.
    Im Flur erhebt sich der kleine Junge und fängt an zu laufen. Sein Vater verlässt gerade den Befragungsraum, begleitet von zwei Harkis. Er ist ein Mann Mitte vierzig, groß und hager. Sein gekämmtes Haar ist beinahe vollkommen grau. Er beugt sich nieder, um das Kind in die Arme zu schließen. Er drückt es mit aller Kraft an sich und wirft dabei dem Capitaine Degorce einen langen, dankerfüllten und verzweifelten Blick zu. Seine Augen sind feucht, beinahe weinerlich, wie die eines Greises. Seine Lippen beben.
    (Da wurde nichts verbrochen. So sollten sich die Dinge abspielen, immer.)
    – Ich begleite Sie zum Wagen, Moreau. Ich war noch nicht draußen heute. Ich werde etwas Luft schnappen.
    Die Sonne strahlt und es ist sehr warm jetzt. Die Farbe des Himmels ist unentschieden und hässlich, von einem blassen und milchigen Blau, das Capitaine Degorce die Heiligenbilder in Erinnerung ruft, auf deren Rückseite seine Mutter ihm alljährlich Glückwünsche für seinen Geburtstag oder zu Neujahr geschrieben hat, man konnte darauf das Jesuskind sehen, blass und rundlich, völlig erstarrt von einer trüben Ernsthaftigkeit auf den Knien der Heiligen Jungfrau, oder das Martyrium irgendwelcher Heiliger, gegeißelt, gevierteilt oder gekocht, deren Mund sich zu einem Schrei öffnete, der einem ekstatischen Stöhnen ähnelte, und im Hintergrund spielten Engel auf Trompeten in ebendiesem Pappmachéhimmel. Capitaine Degorce hat seiner Mutter gegenüber niemals geäußert, wie sehr diese naiven Darstellungen ihn unangenehm berührt haben und wie wenig sie mit der Natur seines Glaubens übereinstimmten. Er konnte sich nicht davon abhalten, an ihnen etwas Ranziges und Verdorbenes wahrzunehmen, und jetzt findet er dies in der Perversität des algerischen Himmels wieder. Im Süden häufen sich riesige gelblichbraune Wolken am Horizont. Capitaine Degorces Haut fühlt sich feucht und klebrig an. Er geht zurück, um sich die Hände zu waschen und frisches Wasser über sein Gesicht laufen zu lassen. Er hat Lust, Tahar noch einmal zu sehen, sich in der beruhigenden Dunkelheit der Zelle ihm gegenüberzusetzen. Er kehrt zurück in sein Büro, wo die Tageszeitungen bereits auf ihn warten. Tahar ist auf den Titelseiten, unter einstimmig triumphalen Überschriften. Capitaine Degorce besitzt nicht den Mut, die Artikel zu lesen, diese ganze schleimige und kalte Prosa. Er befingert noch leicht seine Post und hebt die Augen hoch Richtung Organigramm. Tahars Foto müsste mit einem roten Kreuz versehen werden, aber er hat keine Lust dazu. Ein idiotischer Aberglaube. Er wird einen Orden erhalten oder befördert werden, dafür, dass er ihn festgenommen hat, das ist gewiss, und diese Vorstellung ist ihm mit einem Mal unerträglich.
    (Die Zeit wird verstreichen, Gott sei gedankt.)
    Die Zeit wird verstreichen, er wird El-Biar verlassen, er wird Algerien verlassen, er wird nach Piana zurückkehren, um erneut Urlaub zu machen, und er wird die klare Luft wiederfinden, er wird die Freude an spontanen Worten wiederfinden, sobald er seine Frau an sich gedrückt, die Stirn seiner Kinder geküsst haben wird, werden sie wieder lebendig werden und ihren Platz in seinem Herzen wiederfinden.
    (Aber wie könnte ich sie denn in meine Arme schließen?)
    Er erhebt sich und macht das rote Kreuz. Bald wird das Organigramm vollständig

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