Und meine Seele ließ ich zurueck
Geruch nach Tabak und Eau de Cologne er vergessen hatte, langsam um ihn herumgehen und dabei mit extremer Sorgfalt ihre Ärmel in der Junihitze zurückschlagen. Er versteht den Sinn ihrer Inszenierung und er versucht, ruhig zu atmen, ohne sie mit den Augen zu verfolgen, es will ihm jedoch nicht gelingen, seinen Herzschlag zu kontrollieren. Einige Wochen zuvor, als Charles Lézieux, sein Mathematiklehrer im Vorbereitungskurs zur Aufnahmeprüfung an der ENS, sich darauf eingelassen hatte, ihm eine heimliche Plakatierungsaktion anzuvertrauen, einen recht armseligen Einsatz, hatte er zu ihm gesagt: »Wenn Sie das Pech haben, erwischt zu werden, André, dann versuchen Sie nicht, den Helden zu spielen. Versuchen Sie, vierundzwanzig Stunden lang nichts zu sagen. Vierundzwanzig Stunden. Das wird reichen.« Und gefesselt auf einem Stuhl, die beiden Männer gehen noch immer mit der Ruhe eines Raubtieres um ihn herum, beschäftigt sich André Degorce mit nur einer einzigen Frage: Wird er fähig sein, vierundzwanzig Stunden durchzuhalten? Diese Frage beschäftigt ihn vollständig, sie hält ihn davon ab, an die aufmerksame Liebe seiner Eltern zu denken, an seinen Traum, die Aufnahme an der ENS zu schaffen, an die langen Spaziergänge der Frühlingsabende nach Unterrichtsschluss entlang der steilen Ufer des Doubs in Begleitung von Lézieux, an die lustigen Augen einer unbekannten Gymnasiastin, der er nie mehr begegnen wird, an die süße Wärme der Mitternachtsmessen seiner Kindheit, alles Dinge, deren Erinnerung darauf wartet, sich in seine Seele zu schleichen, um ihn zu berühren und zu beugen, bis er brechen würde unter dem Gewicht der Traurigkeit, und als einer der Männer schließlich seine Hand auf ihn niederknallt und der Siegelring, den dieser am Ringfinger trägt, ihm die Lippe aufplatzen lässt, ist er beinahe darüber erleichtert, denn er weiß, dass die Antwort bald erfolgen wird. Ja, es ist wahrlich eine Erleichterung, er erinnert sich ganz genau, denn die Hoffnung und die Angst waren auf brutale Weise vertrieben worden vom souveränen Einbruch der körperlichen Gewalt, die auch das Gedächtnis zerlegt, den Gedanken und die Zeit, aber die Antwort sollte nicht erfolgen, sie erfolgte nie, sämtliche Augenblicke wurden sonderbarerweise aufgehoben oder gedehnt, eine Sekunde folgt auf eine weitere, sie werden vom Nichts geschluckt oder erstarren, um die Ewigkeit zu konstituieren, und vierundzwanzig Stunden haben keinerlei Bedeutung mehr. Capitaine André Degorce sieht sich wieder, wie er nackt auf dem Boden liegt, die Knie an die Brust gezogen, nicht mehr wissend, welchen Teil seines Körpers er schützen soll, die beiden Männer beugen sich über ihn mit einer übernatürlichen Langsamkeit, er riecht ihren Geruch, den warmen Hauch ihres Atems, eine Glühbirne ist da, ein offenes Kabel, das trübe Emaille einer Badewanne, ein Firmament aus Seifenwasser, das nach Blut schmeckt, er ist plötzlich allein, er atmet gierig, eine Hand zieht an seinen Haaren, er hat sich entleert und er hört eine trostlose Stimme, die voller Enttäuschung sagt Du bist wirklich ein Schwein, mein Junge, ein widerliches Schwein, wo hat man dich bloß erzogen?, seine gebrochenen Rippen lassen ihn wimmern wie ein Neugeborenes, aber er verspürt keine Schmerzen mehr, der Schmerz ist zur intimen Substanz seines Wesens geworden und er verzögert Sekunde um Sekunde den Moment des Bekenntnisses, den köstlichen Moment, an dem er den Namen seines Mathematiklehrers wird preisgeben können, der einzige Name, den er kennt, er hält ihn zurück, bis man ihn, ohne dass er etwas gesagt hätte, in eine Zelle sperrt, aus der er dann nur noch herausgetreten ist, um nach Buchenwald transportiert zu werden. Im Sammellager hatte er in Erfahrung gebracht, dass seit seiner Festnahme zehn Tage vergangen waren, nie aber hatte er herausgefunden, wie lange die Befragung gedauert hat. Auf dem Bahnsteig erzeugen ihm die Gerüche des Sommers und die Unermesslichkeit des Himmels Schwindel und als sich die Türen des Waggons hinter ihm schließen, branden mit einem Male sämtliche Erinnerungen seiner jungen Existenz, die die Herrschaft des Schmerzes bislang von ihm ferngehalten hatte, gemeinsam hoch, lösen sich auf und finden sich zu einem einzigen Gefühl von absoluter Einfachheit zusammen, dem stechenden Gefühl der Süße des Lebens, er ist neunzehn Jahre alt, Schluchzer würgen ihm die Kehle und wenn ihm irgendjemand in diesem Augenblick versprochen hätte, dass er
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