Und meine Seele ließ ich zurueck
keinen Begriff davon haben. Ich habe so viele Menschen sterben sehen, mon Capitaine, ich war ihnen näher als ihre eigene Mutter und ich kann Ihnen versichern, dass sie alle etwas gelernt hatten, etwas Wichtiges, eine Wahrheit, die Tahar nicht gekannt hat, da Sie unter keinen Umständen wollten, dass er auch nur leicht in seinen Fundamenten erschüttert werden sollte. Wir fuhren immer nachts aus der Stadt, wir überflogen die Bucht, stets waren sie still, hinten im Fond des Wagens oder im Helikopter, sie weinten nicht, sie flehten nicht, kein Funke Wunsch oder Revolte war mehr in ihnen, und sie kippten ohne einen Schrei ins Massengrab, sie fielen mit einem langen, schweigenden Sturz Richtung Meer, sie hatten keine Angst, ich weiß es genau, denn jedem von ihnen habe ich in die Augen geblickt, wie es meine Pflicht war, mon Capitaine, der Tod ist eine ernste Angelegenheit, aber sie hatten keine Angst, wir haben ihnen den Tod versüßt, wir haben das für sie getan, sie erwiderten meinen Blick, sie sahen mein Gesicht und ihre Augen waren leer, ich erinnere es sehr genau, keine Spur von Hass war darin zu finden, keine Beurteilung, keine Nostalgie, nichts war mehr zu finden, wenn nicht vielleicht doch der Friede und die Erleichterung, endlich befreit zu sein, denn dank unsereins, mon Capitaine, konnte keiner von ihnen mehr ignorieren, dass der Körper ein Grab ist.
27. März 1957: ERSTER TAG
Genesis, IV, 10
Von der Spitze des immensen Organigramms herab, das eine ganze Wandfläche des Büros bedeckt, scheint Tarik Hadj Nacer, genannt Tahar, der Reine, die Welt mit unermesslicher Melancholie zu betrachten. Zum Zeitpunkt, da dieses Foto auf einem Kommissariat in Constantine aufgenommen worden war, hatte er seinen Beinamen noch nicht erworben. Er war nicht mehr als ein Bankangestellter mit subversiven Ideen und falls er bereits hatte beginnen sollen zu ahnen, dass er seiner Zukunft als Herr eines Untergrundkrieges nicht mehr entkommen würde, dann fügte er sich dem möglicherweise ohne Begeisterung. Zwei Monate zuvor, als Capitaine André Degorce die Örtlichkeit in Besitz genommen hatte, thronte Tahar allein, dem Souverän eines unsichtbaren Königreichs ähnlich, an der Spitze eines jungfräulichen Organigramms, das inzwischen Hunderte großteils mit einem kleinen, roten Kreuz versehene Namen und Fotos fast vollständig bedecken. Sobald kein einziges leeres Feld mehr vorhanden sein wird, hat Capitaine Degorce seine Arbeit zu einem Ende gebracht. Er weiß jetzt, dass dies nur mehr eine Frage der Zeit ist, und er weiß zudem, dass er, sobald der Tag gekommen, unfähig sein wird, sich seines Sieges zu erfreuen. Sein ganzes Leben lang hat er Siegesträume genährt, ohne je etwas anderes zu kennen als eine lange Abfolge an Niederlagen, niemals aber hätte er gedacht, dass er am Vorabend des Augenblicks, an dem er endlich erhört werden sollte, zu verstehen haben würde, wie grausam der Sieg zu sein vermag und dass er ihn sehr viel mehr kosten würde als alles, was er zu geben hätte. Zu beten vermag er nicht mehr. Er kann sich noch so sehr im Halbschatten seines Zimmers niederknien und sich der Inbrunst hingeben, wie er es seit Kindesbeinen tut, kein einziges Wort steigt ihm zu den Lippen. Er verharrt bewegungslos in der Stille und lässt sich von den regelmäßigen Schlägen seines erstarrten Herzens einwiegen, bis er sich schließlich dazu entscheidet, seine Bibel an einer zufälligen Stelle aufzuschlagen und im Flüsterton einige Verse vorzulesen, die ihm keinerlei Halt geben. Er kann der Heiligen Schrift keine hoffnungsvollen Botschaften mehr entnehmen, sondern nur mehr den endlos wiederholten Ausdruck einer entsetzlichen Drohung. Er kann die Briefe von Jeanne-Marie nicht mehr entgegennehmen, ohne zu zittern. Tag für Tag verschiebt er deren Erbrechen, aus Angst, dass er seine Bestrafung schon erhalten habe. Er malt sich aus, dass sein Neffe jählings körperlich behindert wäre oder seine Tochter tot, dahingerafft in nur wenigen Tagen von einer Lungenentzündung oder überfahren von einem Auto, bedingt durch das, was er hier tut.
(Ich weiß, wer du bist. Ich habe deine Stimme lange Zeit schon vernommen. Du bist ein eifersüchtiger Gott, der die Fehler der Väter an den Söhnen bestraft, bis hinunter in die dritte und vierte Generation.)
Erst heute Morgen noch bescheidet er sich darin, über den Umschlag mit den Fingerspitzen zu streicheln und das Parfum einzuatmen, bevor er einen Sous-Officier ruft.
– Febvay, sagen
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