Und morgen am Meer
klar, ich wusste ja, dass es irgendwas mit dem Jungen zu tun hat. Na, den möchte ich in die Finger kriegen!«
»Mirko!«, rief ich entsetzt, doch er schüttelte gleich wieder den Kopf.
»Nee, alles locker jetzt. Ich hab die letzte Zeit viel nachgedacht. Du hattest recht, Papa hätte uns nicht verschweigen dürfen, was damals war. Und er hätte dir auch keine runterhauen dürfen. Das war echt nicht in Ordnung. Aber dass ihr mein Motorrad geklaut habt …«
Er verstummte, als ich mich an seinen Arm kuschelte. »Entschuldige. Wir wussten wirklich nicht weiter. Claudius hat es viel härter getroffen, der ist aus der U-Bahn gesprungen.«
»Der Idiot«, brummte Mirko jetzt wieder. »Was, wenn er dabei umgekommen wäre? Der hat mehr Glück als Verstand gehabt, hätte er sich die Beine gebrochen, hätten ihn die Grenzer abgeknallt wie einen Hund!«
»Meinst du wirklich?«
Mirko nickte. »Ja. Aber es ist gut gegangen. Und einer, der wegen meiner Schwester aus einer Bahn springt und seine Knochen riskiert, kann ja eigentlich nicht so verkehrt sein.«
Er legte den Arm um mich und küsste mich auf die Stirn. Fast wie früher, als wir noch klein waren und er mich wegen irgendwas trösten wollte.
»Und Papa?«, stellte ich die Frage, die eigentlich unausweichlich war. Ich hatte bemerkt, dass Mama enttäuscht gewesen war, ihn nicht aus dem Zug steigen zu sehen. Ich wusste, dass sie es insgeheim gehofft hatte. Dass sie gehofft hatte, dass er ihr die Sache mit dem Sorgerecht, die einzige Möglichkeit, mich heil aus der Botschaft rauszukriegen, ohne dass das DDR -Strafrecht mich erwischte, nicht übel genommen hatte. Offenbar nahm er ihr aber mehr als das übel. »Wollte er denn gar nicht mitkommen?«
Mirko schüttelte den Kopf, und auf einmal wurde seine Miene finster.
»Nee, er wollte nicht mit rüber. Später vielleicht, hat er gesagt.«
»Später? Jetzt, wo er Mama sehen könnte? Die beiden haben sich nie getrennt! Warum will er denn nicht?«
»Ich weiß auch nicht, warum. Aber ich weiß jetzt, warum wir all den Ärger bekommen haben.«
»Und?« Etwas klumpte sich plötzlich in meinem Magen zusammen.
»Papa hatte unterschrieben.«
»Was?« Meine Nackenhaare stellten sich auf. In der DDR sagte man nicht, dass jemand bei der Stasi eingetreten war. Es hieß nur: Er hat unterschrieben, und jeder wusste Bescheid.
»Er hat als IM gearbeitet?«
Mirko nickte beklommen.
»Und woher weißt du das?«
»Er hat es mir erzählt. Einige Tage nachdem die Mauer gefallen ist. Er meinte, dass er es tun musste. Sie hatten ihn vor die Wahl gestellt. Entweder er geht in den Knast für seinen Fluchtversuch oder er arbeitet für sie. Nun ist dir sicher auch klar, warum dein Kontakt zu einem aus dem Westen aufgeflogen ist. Wir wurden ständig überwacht.« Er griff in die Hosentasche und holte ein kleines Metallgebilde hervor.
»Das hier habe ich aus deinem Radio geholt. Aus Opas Radio.«
»Was ist das?«, fragte ich, während ich das Ding besah. So was hatten wir nicht im ESP -Unterricht.
»Eine Wanze«, antwortete Mirko. »Sie muss schon sehr lange da dringesteckt haben und immer, wenn sie lauschen wollten, war der Empfang schlecht.«
»Aber wieso wollten sie mich belauschen?« Die Feststellung, dass mich ein Stasimitarbeiter jahrelang beim Duschen beobachtet hatte, hätte nicht schlimmer sein können.
»Sie haben nicht dich belauschen wollen, sondern Papa. Uns. Genau genommen haben sie sogar schon Opa belauscht. Möglicherweise hatten sie unsere Eltern schon länger im Visier und rausgekriegt, dass sie flüchten wollten.«
Ich hatte große Lust, die Wanze unter den nächsten Zug zu werfen. Und nun war ich mir wieder sicher, dass es richtig war, was Claudius und ich getan hatten. Beim nächsten Besuch wollte ich ihm die Wanze zeigen und ihn fragen, ob er seinem Vater das Ding nicht unter die Nase halten wolle, damit der sah, dass sein Sohn richtig gehandelt hatte.
»Sie haben also ihren Spitzel bespitzelt?« Ich konnte es nicht fassen. Was hatte die Stasi denn noch so alles draufgehabt? Mama hatte mich gefragt, ob ich irgendwann, sollte eine Aufarbeitung geschehen, wissen wollte, wer mich alles bespitzelt hat.
»Sie haben ihm nie wirklich vertraut. Und ich möchte auch gern daran glauben, dass er nicht viele Leute verraten hat. Dass er sich bei denen, die er bespitzelt hat, daran erinnerte, welchen Teufelspakt er da eingegangen war.«
Ob wir das je erfahren würden?
Nachdenklich saßen wir auf einer Bank im Bahnhof, bis
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