Und morgen bist Du tot
Tochter.«
Lynn zuckte mit den Schultern. »Bedaure, aber ich habe nie davon gehört. Doch war der Freund meiner Tochter empört darüber, wie man im Londoner Krankenhaus mit ihr umgegangen ist.«
»Was genau hat ihn so empört?«, wollte Grace wissen.
»Dass sie ihre beschissene Transplantationsliste vollkommen willkürlich führen.«
»Hört sich an, als wären Sie ebenfalls empört.«
»Das wären Sie auch, wenn es sich um Ihre Tochter handelte, Detective Superintendent Grace.«
»Aber Sie sind nicht auf die Idee gekommen, sich außerhalb Großbritanniens nach einer passenden Leber umzusehen?«
»Nein, warum sollte ich?«
Grace schwieg einen Moment. Dann fragte er so sanft wie möglich: »Wollen Sie abstreiten, dass Sie ein Telefongespräch mit einer Frau namens Marlene Hartmann geführt haben, die Geschäftsführerin der Transplantations-Zentrale ist? Und zwar um fünf nach neun heute Morgen? Also vor weniger als einer Stunde?«
Plötzlich war es um ihre Fassung geschehen. Sie zitterte am ganzen Körper. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Sie starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an.
»Verdammt, haben Sie etwa mein Telefon abgehört?«
Über ihr gurgelte Wasser im Bad.
Der Detective Superintendent holte einen braunen Umschlag aus der Manteltasche, nahm ein Foto heraus und legte es vor Lynn auf den Tisch.
Es zeigte ein junges Mädchen, nicht älter als fünfzehn oder sechzehn Jahre. Trotz des schmutzigen Äußeren hatte es ein hübsches Gesicht. Der Schnitt und die Hautfarbe erinnerten an eine Roma. Das braune Haar fiel glatt herunter, sie trug eine blaue, ärmellose Steppweste über einer verschlissenen bunten Joggingjacke.
»Mrs Beckett, ich nehme an, man hat Ihnen gesagt, die Leber für Ihre Tochter stamme von einem Verkehrsopfer.«
Er hielt inne und beobachtete ihre Augen. Sie sagte nichts.
»Nun, das ist leider nicht der Fall. Sie stammt von diesem Roma-Mädchen. Ihr Name ist Simona Irimia. Soweit wir wissen, ist sie noch am Leben und unversehrt. Man hat sie nach England geschmuggelt und wird sie töten, damit Ihre Tochter ihre Leber bekommen kann.«
Lynn war, als würde alles um sie herum zusammenbrechen.
105
SIMONA SASS AUF EINER durchgelegenen Matratze im Laderaum des schwankenden Lastwagens und hielt Gogu auf dem Schoß. Der Wagen beschleunigte und bremste abwechselnd, während er die enge, gewundene Straße entlangfuhr. Die meiste Zeit drückte sie die Hände flach auf den gerippten Metallboden, um sich irgendwie abzustützen.
Sie hatte zuletzt gegessen und getrunken, bevor sie in das kleine Flugzeug stiegen, das war mittlerweile Stunden her. Sie litt unter furchtbarem Durst, und ihr war übel vom Gestank der Auspuffgase.
Sie wünschte, Romeo wäre bei ihr, denn bei ihm fühlte sie sich geborgen. Sie hätte jemanden zum Reden gehabt. Die deutsche Frau hatte sie auf der langen Reise meist ignoriert, entweder am Laptop gearbeitet oder telefoniert. Jetzt saß sie vorn im Wagen und führte ein ernst klingendes Gespräch mit dem Fahrer, einem großen Rumänen mit zerklüftetem Gesicht. Er trug sein schwarzes Haar mit Gel zurückgekämmt und hatte ein dickes goldenes Armband am Handgelenk.
Dann und wann hob die Frau die Stimme, und der Fahrer schwieg entweder oder stritt mit ihr. Was sie sagten, konnte Simona nicht verstehen.
Hier hinten gab es keine Fenster. Sie musste den Hals recken und zwischen den Sitzen hindurchschauen, um durch die Windschutzscheibe zu sehen. Sie fuhren über Land, alles wirkte sehr gepflegt. Sie sah vor allem Bäume, Hecken und vereinzelte Häuser oder Bauernhöfe.
Plötzlich bremste der Wagen scharf. Kurz darauf fuhren sie zwischen zwei hohen Säulen hindurch. Ein Gitter klapperte unter ihnen, und dann ging es eine lange, gewundene Einfahrt entlang. Simona bemerkte mehrere Schilder, die sie natürlich nicht verstand:
PRIVATEIGENTUM
PARKEN VERBOTEN
PICKNICKEN VERBOTEN
ZELTEN STRENGSTENS VERBOTEN
In der Ferne sah sie üppige grüne Hügel unter dem grauen Himmel. Sie kamen an einem großen Teich vorbei, dahinter lag eine weitläufige, wunderbar gepflegte Rasenfläche. Ein Teil war kürzer gemäht als der Rest, und sie bemerkte mehrere Krater, die mit Sand gefüllt waren. Sie hätte gern gewusst, was das war, traute sich aber nicht zu fragen.
Sie fuhren eine lange Allee entlang, deren Baumkronen ineinandergriffen. Rechts und links der Straße türmte sich welkes Laub. Sie holperten über eine scharfe Bodenwelle und wurden wieder schneller. Schließlich
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