Und morgen bist Du tot
dachte Lynn verzweifelt. Die Panik, die der Besuch der Polizeibeamten erzeugt hatte, wurde immer schlimmer, der Albtraum immer düsterer.
»Das ist einer der größten Skandale des Jahrhunderts, und du hast nichts davon mitbekommen?«
Lynn stand auf, schob den Stuhl zurück und schaute ihre Tochter an. Sie war erstaunt und gleichzeitig erfreut, dass sie heute Morgen so viel kräftiger wirkte. Aber es bereitete ihr auch Sorgen, denn Caitlin war schon übererregt.
»Es stimmt, ich habe es wirklich nicht mitbekommen. Okay?«
Caitlin schüttelte den Kopf. »Nein, es ist nicht okay.« Dann begann sie wie wild an ihren Armen zu kratzen.
»Die Polizisten lügen, mein Engel. Es gibt keinen Organhandel, das ist nur eine verrückte Theorie.«
»Klar doch. Drei Leichen werden im Kanal gefunden, denen lebenswichtige Organe fehlen, und alle Zeitungen und Fernsehsender und Radiosender lügen.«
»Diese Leichen haben doch nichts mit deiner Transplantation zu tun.«
»Natürlich haben sie das, sonst wäre die Polizei nicht hier gewesen.«
Lynn wusste, dass sie hilflos wirkte, hörte die Verzweiflung in ihrer eigenen Stimme. Irgendjemand in ihrem Kopf schrie sie an, während sie zögernd das Foto auf dem Tisch betrachtete: UND WENN DETECTIVE SUPERINTENDENT ROY GRACE NUN DOCH DIE WAHRHEIT SAGT?
Das Foto des Mädchens hatte sich in ihr Gehirn eingebrannt. Selbst wenn sie die Augen schloss, sah sie es noch vor sich.
Es war nicht möglich. Niemand würde so etwas tun. Niemand wurde ein Kind töten – für Geld – damit ein anderes Kind …
Damit Caitlin?
Würde sie das tun?
Auf einmal wünschte sie sich, Malcolm wäre da. Sie musste mit jemandem darüber sprechen. Das Entsetzen drang von allen Seiten auf sie ein.
Dreiundzwanzig Jahre im Gefängnis.
Sie müssen sich darüber im Klaren sein, wie ernst Polizei und Justiz derartige Aktivitäten nehmen.
Daran hatte sie nicht gedacht. Sicher, sie wollte das System umgehen, indem sie das Organ eines Unfallopfers kaufte, das war alles. Das konnte doch nicht verboten sein, oder?
Ein Kind zu töten.
Dieses Mädchen zu töten.
Das Geld war weg. Jedenfalls die Hälfte. Würde sie es jemals zurückbekommen? Verdammt, sie wollte es gar nicht mehr haben. Sie wollte die verdammte Leber.
Der Polizist musste gelogen haben.
Es gab einen schnellen Weg, um das herauszufinden. Sie nahm ihr Handy, öffnete das Adressbuch und suchte den Namen von Marlene Hartmann.
Sie wollte gerade die Nummer wählen, als sie innehielt.
Und begriff.
Sie begriff, wie dumm das wäre. Falls die Organhändlerin erfuhr, dass die Polizei hinter ihr her war, würde sie die ganze Sache vermutlich abblasen und fliehen. Dieses Risiko durfte Lynn nicht eingehen. Caitlins Zustand hatte sich zwar gebessert, seit Dr. Hunter da gewesen war, aber das würde nicht so bleiben. Als sie versprach, Caitlin an diesem Nachmittag ins Krankenhaus zu bringen, hatte sie sich nur einen Aufschub erkauft.
Falls kein Wunder geschah, würde Caitlin das Krankenhaus nicht lebend verlassen. Sie durfte nicht zulassen, dass ihr Plan scheiterte.
»Hallo? Hallo, Mutter? Jemand zu Hause?«
Lynn zuckte zusammen und schaute ihre Tochter an. »Was?«
»Ich habe dich gefragt, warum die Polizei hier war.«
Dann sackte sie zu Lynns Entsetzen zusammen und kippte zur Seite. Lynn konnte sie gerade noch festhalten.
Einen Moment lang schaute ihre Tochter sie völlig verwirrt an.
»Liebes? Mein Engel! Was ist los?«
Caitlins Augen blickten ins Leere. Sie schien selbst überrascht zu sein und flüsterte: »Geht schon.« Ihre Haut war noch gelber als am Abend zuvor. Dann sagte sie so leise, dass Lynn ihr Ohr an Caitlins Mund legen musste: »Warum war die Polizei hier?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sind sie hinter uns her?«
Lynn schüttelte den Kopf. »Nein.«
Caitlins Stimme klang wieder etwas kräftiger. »Sie schienen auch ganz schön verzweifelt zu sein. Ich meine, so etwas ist doch das letzte Mittel, das Foto von dem Mädchen auf den Tisch zu legen. Außer natürlich, es stimmt.«
Sie schaute ihre Mutter eindringlich an. Plötzlich war ihr Blick wieder klar.
»Vermutlich stehen sie wegen der Leichen unter Druck. Brauchen dringend Ergebnisse. Sie versuchen alles, um jemanden zu verhaften.«
»Na ja, wir versuchen ja auch alles.«
Trotz ihrer aufgewühlten Gefühle lächelte Lynn und drückte ihre Tochter ganz fest an sich, fester als je in ihrem ganzen Leben.
»Mein Gott, ich liebe dich so sehr. Du bedeutest mir alles. Du bist der
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