Und morgen bist Du tot
störte, da sie ohnehin keine Lust zu plaudern hatte. Wann immer sie in den Rückspiegel schaute, sah sie Grigores grinsendes Gesicht mit den schiefen Zähnen. Zweimal hatte er kurz in einer Sprache telefoniert, die sie nicht verstand.
Ihre ganze Aufmerksamkeit galt Caitlin, die sich zu ihrer großen Erleichterung ein bisschen erholt zu haben schien, vermutlich dank der Flüssigkeit und der Medikamente. Im Augenblick war sie selbst das hoffnungslose Nervenbündel. Sie bemerkte kaum, wohin sie auf der A 27 fuhren. Der Himmel war düster und grau und schien die Dunkelheit in ihrem Inneren widerzuspiegeln. Ein leichter Schneeregen fiel. Alle paar Minuten schaltete der Fahrer kurz die Scheibenwischer ein.
»Kommt Dad mich besuchen?«, fragte Caitlin plötzlich mit schwacher Stimme. Sie kratzte sich am Bauch.
»Natürlich. Einer von uns wird immer bei dir bleiben, bis du wieder zu Hause bist.«
»Zu Hause« , sagte Caitlin sehnsüchtig. »Da wäre ich jetzt gern. Zu Hause. «
Lynn fragte lieber nicht, welches Zuhause sie meinte. Die Antwort wusste sie auch so.
Caitlin schaute sie ängstlich und verletzlich an. »Du bleibst doch während der Operation da, Mum?«
»Versprochen.« Sie drückte ihrer Tochter die Hand und küsste sie auf die Wange. »Ich werde auch da sein, wenn du aufwachst.«
Caitlin grinste. »Zieh bitte nichts Peinliches an.«
»Danke vielmals!«
»Ich hoffe, du hast nicht dieses grauenhafte orangefarbene Oberteil dabei.«
»Nein, habe ich nicht.«
*
Etwas über eine halbe Stunde nachdem sie den Parkplatz am Bahnhof verlassen hatten, bogen sie durch ein elegantes, von Säulen flankiertes Tor. Auf einem Schild stand WISTON GRANGE SPA RESORT. Die Auffahrt führte durch einen Park, in dem zu ihrer Linken ein Golfplatz und ein Teich in Sicht kamen. Vor ihnen lagen die Hügel der Downs und das Wäldchen, das den Chanctonbury-Ring bildete.
Caitlin hörte mit geschlossenen Augen Musik oder war eingeschlafen. Lynn wollte sie erst im letzten Augenblick wecken, da sie hoffte, ihre Tochter werde ein bisschen Kraft schöpfen.
Bitte, lieber Gott, mach, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe, betete sie still.
Alles war in Ordnung gewesen, bis die Polizisten kamen. Vorher war sie sich sicher, das Richtige zu tun, doch jetzt begann sie zu zweifeln.
Bei der letzten Bodenschwelle öffnete Caitlin ruckartig die Augen und schaute sich verständnislos um.
Lynn blickte ihre Tochter mit solcher Liebe an, dass ihr Herz schier platzen wollte. Sie sah die gallengelbe Farbe ihrer Haut und ihrer Augen. Sie wirkte furchtbar zerbrechlich und verletzlich.
Sei stark, Liebes. Noch ein bisschen. Nur ein paar Stunden, dann ist alles gut.
Sie warf einen Blick durch die Windschutzscheibe auf das große, hässliche Herrenhaus. Der mittlere Teil schien im neogotischen Stil erbaut, doch es gab eine Anzahl moderner Anbauten und Nebengebäude, von denen einige gar nicht zur ursprünglichen Architektur passten. Vor ihnen lag ein runder Vorplatz, der von zwei Parkplätzen eingerahmt wurde. Sie bogen in einen Weg, der als privat gekennzeichnet war. Der Platz hinter dem Haus wurde von den ehemaligen Stallungen und einigen unschönen Garagen eingerahmt.
Sie hielten neben einem unauffälligen Hintereingang. Bevor Lynn aussteigen konnte, tauchte eine massige Frau in weißer Schwesternkleidung und Turnschuhen auf.
Grigore eilte herbei, um Caitlin die Tür zu öffnen, doch sie rutschte mühsam zu ihrer Mutter hinüber und stieg allein aus.
»Mrs Lynn Beckett, Miss Caitlin Beckett?« Durch das gebrochene Englisch der Frau klang es wie ein Verhör.
Lynn nickte gehorsam, legte den Arm um ihre Tochter und warf einen Blick auf das Namensschild der Frau: Draguta.
Ein ganz schöner Drache, dachte sie.
»Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
»Ich bringe Taschen«, sagte Grigore.
Lynn hielt Caitlins Hand umklammert, während sie der Frau durch einen breiten, weiß gekachelten Flur folgten, in dem es stark nach Desinfektionsmitteln roch. Vor einer verschlossenen Tür am Ende blieb die Krankenschwester stehen und tippte einen Sicherheitscode ein.
Sie gingen durch einen mit Teppich ausgelegten Raum mit blassgrauen Wänden. Vor einer Tür blieb die Frau stehen und klopfte.
»Herein«, sagte eine Frauenstimme.
Lynn und Caitlin wurden in ein großes, luxuriöses Büro geführt, und die Krankenschwester schloss die Tür hinter ihnen. Marlene Hartmann erhob sich von ihrem kahlen Schreibtisch, um sie zu begrüßen.
»Gut, Sie sind
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