Und morgen bist Du tot
Beckett. Wir können nicht entscheiden, ob der eine Mensch mehr Recht auf Leben hat als der andere, nur weil er älter oder jünger ist oder gesund oder ungesund gelebt hat. Wir fällen keine Urteile. Wir tun unser Bestes, um allen zu helfen. Und manchmal müssen wir schwierige Entscheidungen treffen.«
Lynn funkelte sie an. Noch nie in ihrem Leben hatte sie jemanden so sehr gehasst wie diese Frau. Sie wusste nicht, ob sie die Wahrheit sagte oder ihr irgendwelchen Mist auftischte. Ob irgendein reicher Unternehmer der Klinik eine Spende versprochen hatte, wenn man Caitlin überging und stattdessen sein Kind rettete. Oder hatte es einen Fehler gegeben, den sie vertuschen wollten?
»Ach ja?«, höhnte sie. » Schwierige Entscheidungen? Shirley, sagen Sie mal, haben Sie jemals wegen einer schwierigen Entscheidung eine schlaflose Nacht gehabt?«
Die Krankenschwester blieb ruhig, ihre Stimme sanft. »Mir liegen alle unsere Patienten sehr am Herzen, Mrs Beckett. Und ich nehme ihre Probleme jeden Abend mit nach Hause.«
Lynn begriff, dass sie die Wahrheit sagte.
»Shirley, beantworten Sie mir noch eine Frage. Sie haben eben gesagt, dass Caitlin ganz oben auf der Liste stand, weil es keinen anderen passenden Empfänger über ihr gab. Aber das könnte sich ändern, oder? Jederzeit?«
»Wir haben eine wöchentliche Besprechung, bei der wir über die Prioritäten entscheiden«, erwiderte Shirley.
»Also könnte sich bei Ihrer nächsten Besprechung alles ändern? Wenn jemand noch dringender eine Leber braucht als Caitlin, würde er bevorzugt?«
»So funktioniert es leider.«
Lynns Blut kochte wieder. »Das ist ja toll. Bei Ihnen läuft es wie beim Erschießungskommando. Bei dieser wöchentlichen Besprechung entscheiden Sie, wer leben und wer sterben wird. Es ist, als würden Sie alle den Abzug betätigen, aber einer hat seine Waffe nicht geladen. Ihre Patienten sterben, und keiner von Ihnen muss mit der Schuld leben.«
49
SIMONA LAG AUF DER Untersuchungsliege und war nur mit einem losen Morgenmantel bekleidet. Dr. Nicolai, ein ernsthafter, freundlich aussehender Mann um die vierzig, maß ihren Blutdruck.
Dann lockerte er die Manschette wieder und nickte, als wäre alles in Ordnung.
Die deutsche Frau, die sich als Marlene vorgestellt hatte, stand neben ihr. Sie ist schön, dachte Simona. Sie trug einen schmalen, pelzbesetzten schwarzen Wildledermantel, einen dünnen rosa Pullover, schicke Jeans und schwarze Lederstiefel. Ihr blondes Haar war lässig verwuschelt und fiel ihr auf die Schultern. Sie roch nach einem wunderbaren Parfum.
Simona mochte sie und vertraute ihr. Romeo hat recht gehabt, dachte sie. Sie war vertrauenerweckend, sanft und freundlich. Simona hatte ihre Mutter nie kennengelernt, doch wenn sie sich eine hätte aussuchen dürfen, sollte sie wie Marlene sein.
»Ich nehme dir nur ein bisschen Blut ab«, sagte der Arzt, entfernte die Manschette und holte eine Spritze hervor.
Simona starrte sie völlig verängstigt an.
»Alles in Ordnung, Simona«, sagte Marlene.
»Was haben Sie vor?« Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»Wir werden dich gründlich untersuchen, damit wir auch wissen, ob du gesund bist. Wir investieren viel Geld, wenn wir dich nach England schicken. Wir müssen dir irgendwie einen Pass besorgen, was nicht einfach ist, da du keine Papiere hast. Sie lassen dich in England nur arbeiten, wenn du gesund bist.«
Simona zuckte zusammen, als die Nadel näher kam. »Nein«, sagte sie. »NEIN!«
»Alles in Ordnung, Liebes!«
»Wo ist Romeo?«
»Draußen. Mit ihm machen wir die gleichen Untersuchungen. Möchtest du ihn dabeihaben?«
Simona nickte.
Die Frau öffnete die Tür. Romeo kam herein, und seine riesigen Augen wurden noch größer, als er Simona im Morgenmantel sah.
»Was machen die?«, wollte sie wissen.
»Sie sind in Ordnung«, sagte Romeo. »Sie tun dir nicht weh. Wir müssen diese Untersuchung machen.«
Simona schrie auf, als sie den Einstich im Arm spürte. Dann sah sie entsetzt zu, wie der Arzt den Kolben aufzog und das Röhrchen sich langsam, aber sicher mit ihrem dunkelroten Blut füllte.
»Wir brauchen die Scheine, damit wir ins Land können«, sagte Romeo.
»Es tut weh.«
Dann war die Spritze voll. Der Arzt zog sie heraus, legte sie auf einen Tisch und drückte einen antiseptischen Tupfer auf ihren Arm. Er hielt ihn fest und klebte ein kleines Pflaster auf die Stelle.
»Schon erledigt!«
»Kann ich jetzt gehen?«
»Ja, kannst du. Finden wir euch an derselben
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