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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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Handgranate in sein Oberteil, und dann schnallen wir die provisorischen Seesäcke um, die wir aus Reissäcken des Internationalen Flüchtlingshilfswerks zusammengenäht haben. David zieht den Nagel aus dem Türschloss. Die Tür ist offen. Wenn Dumbo jetzt hereinkommt, sieht er auf den ersten Blick, was wir vorhaben: Zwei Schweizer in Verkleidung, mit Handgranaten in den Taschen und Marschgepäck.
    Wir warten einen Moment, dann öffnet David die Tür einen Spalt. Er sieht hinaus, nichts tut sich. Er öffnet die Tür vollständig und drückt sich gegen die Wand. Ich zwänge mich mit den Säcken durch die Öffnung und gehe, wie besprochen, mit langsamen Schritten an der Umgrenzungsmauer entlang. Wir haben es immer wieder geprobt. Es sind dreiunddreißig Schritte, eine Minute und fünfzehn Sekunden muss es dauern. Ich darf nicht rennen. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Ich hatte erwartet, dass ich vor Ungeduld und Angst am liebsten lossprinten würde, doch jetzt ist das Gefühl ein anderes. Jeder Schritt kostet mich eine enorme Anstrengung, als wären mir die sechs Liter Wasser und die zehn Fladenbrote in den Rucksäcken zu schwer, als müsste ich wieder einen Bergmarathon laufen, mit einem grippalen Infekt in den Knochen. Ich gehe langsam auf die Betonblöcke zu, die neben dem Haupttor deponiert sind und sich irgendwann in eine Zisterne verwandeln sollen. Hier soll ich auf David warten, der unterdessen zu Dumbos Motorrad geschlichen ist und mit der Infusionsnadel den Vorderreifen platt sticht.
    Nun dehnt sich die Zeit wieder ins Unendliche. Ich sehe, wie David an dem Motorrad kauert, eine Drohne surrt über unsere Köpfe hinweg, entfernt sich, das Geräusch verklingt, und einen Moment lang meine ich, es wäre absolut still. Meine Augen haben sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, im Sternenlicht zeichnen sich klare Konturen ab. Ich sehe das Frauenhaus, aus dem kein Laut dringt, unsere Zimmertür mit dem Oberlicht ist geschlossen, ebenso wie der Schieber am Schloss. Unsere Tür ist unverdächtig, niemand wird auf die Idee kommen, dass wir nicht mehr dahinter schlafen. Es sei denn, er sieht uns hier stehen. Die Nacht ist klar, leichte Windböen fahren in den Hof und wirbeln Staub auf. Wie immer in den letzten achteinhalb Monaten habe ich diesen sandigen Geschmack zwischen den Zähnen.
    David ist an mir vorbeigegangen und bewegt sich auf das große Tor zu. Auch wenn wir am Abend noch einmal den Hof nach Stolpersteinen abgesucht haben, geht er mit quälender Langsamkeit und Umsicht. Es scheint ihn keine Mühe zu kosten, bedächtig einen Fuß vor den anderen zu setzen, der Versuchung zu widerstehen, einfach loszurennen, den Riegel aufzureißen und aus diesem Irrsinn zu verschwinden. Ich denke an die zwei Faustschläge, die er bei der Entführung eingesteckt hat, ohne sich zu wehren, an die vielen Male, als er ein Lächeln aufgesetzt hat, obwohl er Dumbo am liebsten mit bloßen Händen erwürgt hätte. Er besitzt die Fähigkeit, in besonderen Momenten in Trance zu geraten und fehlerlos und unbeirrbar wie eine Maschine zu arbeiten.
    Aber dann unterläuft auch David ein Missgeschick. Eine ganze Serie, die in die Katastrophe mündet. Zuerst zieht er wie besprochen an dem großen Eisenriegel, den wir wieder und wieder geschmiert haben. Aber trotz des Waffenöls quietscht und ächzt das Metall. David schaut mich an, zögert, zieht wieder, wieder ein Quietschen. Wieso verdammt? Die Tür ist in der Nacht anders verriegelt als am Tag. Diesen Schließmechanismus haben wir noch nie bedient, geschweige denn geölt. Noch einmal zurück, um das Öl zu holen? Das würde zu viel Zeit kosten.
    Als der Riegel endlich aufgezogen ist, öffnet David die Metalltür, die in das Tor eingelassen ist. Auch diese haben wir in den letzten Wochen ein ums andere Mal mit Waffenöl beträufelt, jedes Scharnier, jede Kontaktstelle zwischen Rahmen und Türblatt. Doch die Mühe war umsonst. Mit einem lang gezogenen Kreischen und Wimmern schwingt die Tür in den Angeln. David tritt zur Seite, lehnt sich gegen die Mauer und lässt mich passieren. So ist unser Plan gewesen: Ich trete zuerst hinaus in die Freiheit. Sollte man uns im letzten Moment entdecken, dann versucht David, unsere Bewacher aufzuhalten, während ich davonlaufe. Nicht vorgesehen in unserem Plan war diese Kakofonie der Riegel und Scharniere. Ich gehe hinaus auf die dunkle Straße. Die Piste schimmert im Sternenlicht, dahinter liegt ein Hang, der sich in der Finsternis verliert. Ein

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