Und morgen seid ihr tot
Verlies gequält hatte, herablassend bemerkte, wenn sie kein Geld für uns bekämen, würden sie uns umbringen, hatte er ihn als »Bungalow Sergeant« verspottet. All dies scheint Junkie zu Ohren gekommen zu sein. Der Doktor versucht es mit Beschwichtigungen und unterwürfigen Gesten, doch das scheint Junkie wenig zu beeindrucken. Er hat einen Bambusstock in der Hand, den er zunächst drohend gegen den alten Mann zucken lässt, dann beginnt er, nach dessen mageren Beinen zu schlagen, und nachdem er sich in Rage geredet hat, springt er auf und schlägt von oben auf das weißhaarige Haupt ein. Der schmächtige, gebrechliche Mann versucht, seinen Kopf und die Organe gegen die Stockhiebe zu schützen, David springt auf und ruft: »He’s an old man, don’t beat him, please, don’t hit him.« Aber Junkie lässt sich nicht beruhigen und wirbelt weiter mit dem Stock herum. Seine Männer schreien durcheinander. Sie scheinen Junkie anzustacheln und drängen selbst auf den Doktor zu. Ich bin ebenfalls aufgesprungen, bin aber unfähig einzugreifen.
David schiebt seinen wuchtigen Körper zwischen Junkie und den Doktor, während Junkies Männer die Habseligkeiten des Arztes durchwühlen, auf den Boden werfen und darauf herumtrampeln. David fleht den Dorfchef an, er solle eingreifen, und beginnt zu weinen. So gefühllos die Taliban bisher auf uns gewirkt haben – Tränen, zumal von einem Mann, bringen sie aus der Fassung. Der Dorfchef stellt sich auf Davids Seite und redet beschwichtigend auf Junkie ein. »Nicht hier, nicht hier«, sagt er schließlich.
Daraufhin gibt Junkie seinen Männern ein paar Anweisungen, sie zerren den Doktor aus dem Zimmer und ziehen mit aufgeregtem Geschrei ab, während wir mit dem Dorfchef und den anderen in »unserem Doppelzimmer« zurückbleiben.
Wir sitzen da, starren einander schweigend an und horchen auf Geräusche. Insgeheim rechnen wir damit, dass wir aus der Ferne einen Schuss hören, oder Salven aus den Kalaschnikows. Doch nichts geschieht.
Wir werden sechs Tage in dieser Unterkunft bleiben, sechs unendlich lange Tage. Keine Nachricht kommt, weder aus der Heimat noch von unseren Entführern. Es ist kein Lebenszeichen von uns aufgezeichnet worden, keine Forderung ist unseres Wissens formuliert oder übermittelt worden. Angeblich soll ein Video gedreht werden, mit dem man Druck auf den Schweizer Staat ausüben will, aber nichts dergleichen geschieht.
Die Menschen im Weiler sind überwiegend freundlich zu uns. Wir wissen nicht, ob sie zu den Taliban gehören, ob sie Sympathisanten oder Handlanger sind. Mir wird gestattet, das Flussbett zu durchqueren und zu den Frauen und Kindern zu gehen. Ihr Wohnraum ist eng, die Wände schwarz vor Ruß, fünf Betten und eine Nähmaschine mit Handkurbel stehen um die Feuerstelle. Die Frauen tragen Kopftücher, weite Röcke und selbst gemachte Ohrringe, Nasenstecker, bunte Ketten und Haarspangen. Ihre Tracht wirkt farbenfroh und entspricht nicht dem Bild der in schwarze Burkas verhüllten Frauen islamistischer Fundamentalisten.
Als ich mit meinen wenigen Brocken Paschtu und Urdu erzähle, wie wir unter Waffengewalt entführt wurden, sind die Frauen erschüttert und versuchen mich zu trösten. Die Nähe dieser Menschen, der Kinder, die sich an meine Beine klammern, ein Mädchen mit türkisfarbenen Augen, das mich anlächelt und mich auf schmerzhafte Weise an Liv erinnert, das alles wühlt mich so auf, dass mir die Tränen über die Wangen laufen. Die Frauen beginnen ebenfalls zu weinen und halten meine Hände. Obwohl wir kaum miteinander reden können, entsteht eine so starke, fast magische Verbindung zwischen uns, dass wir nicht wieder loslassen wollen.
Nichts wünsche ich mir mehr, als weit weg zu sein, zu Hause in der Schweiz, und doch fühle ich mich verstanden und geborgen – bei den Frauen meiner Entführer!
Ein Mann, der uns besonders sympathisch ist, heißt für uns »Knorrli«, weil er dem Knorrli, dem Männchen mit der roten Zipfelmütze aus der Suppenwerbung, ähnlich sieht. Er hat zwei Söhne, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Sie sind acht und zehn Jahre alt, alt genug, um bereits die Erwachsenen zu bedienen. Der Kleinere hat ein heiteres Gemüt, sprüht vor Witz und Energie und scheint seine Arbeit zu genießen, weil er dadurch in unsere Nähe kommt. Es ist jener, der wie ein Äffchen auf Mauern, Fässer und Bäume klettert und den wir Monkey nennen. Sein zehnjähriger Bruder hat einen kahl geschorenen Kopf (vielleicht nach einem
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