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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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oft gemeinsam mit den Kindern. Diese sind zwar verdreckt und haben eine verkrustete Rotznase, aber solange sie noch keine acht Jahre alt sind, also noch nicht ständig als Kammerdiener und Handlanger eingesetzt werden, haben sie ein unverbrauchtes Leuchten, das Feuer spontaner Lebensfreude und Neugier in ihren Augen, das mich so anrührt, während David sie oft nur als lästig empfindet.
    Am 14.   Juli scheint endlich Bewegung in unsere Entführung zu kommen. Immer wieder hatte man angekündigt, es würde eine Videobotschaft mit uns gedreht werden, um Druck auf die Schweiz auszuüben, und als Junkie und seine Leute uns um sechs Uhr wecken, ist es so weit. Wir sollen uns waschen und für den Dreh fertig machen, gleich komme das Aufnahmeteam. Wieder spüre ich das Ziehen im Bauch. Nach einer Weile hören wir Automotoren, Türenschlagen und Stimmen. Eine Gruppe uns fremder Kämpfer tritt durch das Hoftor, gefolgt von zwei vermummten Gestalten. Sie tragen die üblichen langen Hemden, aber ihre Köpfe und Gesichter sind wie bei Berbern in Tücher gehüllt. Einer spricht hervorragend Englisch, ein anderer Deutsch, und diese beiden geben uns klare Instruktionen: Wir sollen eine Botschaft auf Deutsch vorlesen, während die Kamera auf uns gerichtet wird. Dann wird eine zweite Fassung gedreht, in der wir die Botschaft frei vortragen. Wir werden in einen Nebenraum gebracht und von dem deutschen Taliban befragt. Er ist groß, breitschultrig, trägt einen schwarzen Overall, Sturmhaube, Sonnenbrille, Munitionsweste und Kampfstiefel. Unter seinen Ärmeln schauen blonde Härchen hervor. Wir müssen Auskunft über unseren Wohnort, unseren beruflichen Werdegang und die Vermögensverhältnisse unserer Familien geben. »Lügt mich nicht an, sonst mach ich euch fertig«, schreit der Deutsche, wenn eine Antwort ihm nicht glaubwürdig erscheint. »Ich schneide euch den Kopf ab. Und morgen seid ihr tot!« Die beiden »Filmemacher« sagen, es werde wohl zwei bis drei Monate dauern, bis alles überstanden und wir wieder zu Hause seien.
    Ich frage, ob wir eine E-Mail an unsere Familien schreiben dürfen, und schlage vor, einen speziellen Account einzurichten. Dies wird uns gestattet, außerdem dürfen wir eine Videobotschaft für unsere Familien drehen. Ich kann vor Tränen kaum sprechen. Was aus diesem Film geworden ist, werden wir nie erfahren.
    Der deutsche Taliban, der sich eben noch mit der Kompromisslosigkeit der Taliban gebrüstet hat, ändert plötzlich seinen Ton und fragt, welche Artikel des täglichen Bedarfs wir bräuchten. »Welches Shampoo?«, fragt er, »Head and Shoulders, Pantene Pro-V?« Er rattert eine Liste von Marken- und Artikelnamen herunter und versucht, unsere Wünsche mitzuschreiben. Aber wir sind so aufgewühlt und überfordert, dass wir nichts zu antworten wissen. Welche Shampoo-Marke? Wir denken an die Worte der beiden vermummten Gestalten: zwei bis drei Monate. Zwei bis drei Monate, viel länger, als wir uns in den schlimmsten Albträumen ausgemalt hatten. »It takes time, Dany«, hat der Doktor gesagt. Ich denke wieder an seine resignierte Stimme, an seinen ausgezehrten Körper. Ein kluger, studierter, weit gereister Mann – durch die Zeit der Gefangenschaft in ein Wrack verwandelt. Wenigstens am Nationalfeiertag wollten wir zu Hause sein. Zwei bis drei Monate, das heißt, der Sommer geht zu Ende … Mitte September, Mitte Oktober. Die Bäume vor unserer Wohnung werfen das Laub ab, die Tage werden kurz. Und um wie viele Jahre werden wir in dieser Zeit altern?
    Wir sitzen in der sommerlichen Hitze und können es nicht glauben. Zwei Wochen sind vergangen seit der Entführung, und wir sind mit unseren Kräften schon fast am Ende. Wie sollen wir zwei oder drei Monate überstehen? Neunzig Mal in diesem Loch in den Schlaf finden, vierhundertfünfzig Mal das Beten der Männer ertragen, die uns um fünf aus dem unruhigen Schlaf reißen und zurückholen in die deprimierende Wirklichkeit?
    Nach einem Mittagessen werden wir noch einmal zu einem Dreh gerufen. Diesmal sollen wir uns im Gemeinschaftsraum auf ein Bettgestell setzen, in unserem Rücken wird ein mit arabischen Schriftzügen bemaltes schwarzes Tuch aufgespannt, mehrere vermummte Kämpfer stellen sich mit ihren Waffen neben uns, die Videokamera wird auf uns gerichtet, und dann sollen wir die Botschaft noch ein drittes Mal vortragen. Außerdem dürfen wir uns noch mit einem persönlichen Appell an unsere Familien wenden. Ich verliere die Kontrolle, kann nicht an

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