Und morgen seid ihr tot
mich halten, die Gedanken an meine Eltern und meine Geschwister sind zu quälend, ich fange zu weinen an und betrachte mit Bewunderung David, der selbst in diesem Moment die Fassung bewahrt. »Ich bin David Och, ich bin einunddreißig Jahre alt«, sagt er. Dann den Namen seiner Mutter Ursina. Wir seien in Lebensgefahr, die Taliban würden uns erschießen, wenn ihre Forderungen, vor allem nach Freilassung von Mudschahedin und der in den USA zu sechsundachtzig Jahren Haft verurteilten Aafia Siddiqui, nicht erfüllt werden. Die Schweiz solle umgehend Kontakt zu den TTP , den Tehrik-i-Taliban Pakistan, aufnehmen. Das Video, das, wie wir hoffen, für eine baldige Freilassung sorgen wird, wird erst Monate später an die Öffentlichkeit gelangen. Die Schweizer Medien sind sich schnell einig, dass die darin enthaltene Forderung nach einem Austausch mit Gefangenen reine Propaganda sei. In Wahrheit gehe es nur um Geld.
Wir werden in den Innenhof geführt und lassen uns erschöpft auf den Boden sinken. Dann kommen die bewaffneten Männer wieder und zeigen auf David. Er solle mitkommen. Jetzt ist es so weit, denke ich. David verschwindet durch die Tür, ich werde panisch. Ich kann mich nicht dagegen wehren, kann nicht einmal aufstehen, ich sitze in der Sonne, inmitten von all dem Unrat, Mäuse schießen quiekend über den gestampften Boden, und ich stelle mir vor, wie David vor den arabischen Schriftzügen sitzt, flankiert von den beiden Taliban, und dann spielen die Bilder in meinem Kopf verrückt. Exekutionen, die ich in Dokumentarfilmen und im Internet gesehen habe. Vermummte Kämpfer, die Allahs erhabene Größe preisen, wie bei der Schlachtung der Ziege, und ihre Opfer per Kopfschuss eliminieren. Wenn sie David töten, können sie noch mehr Druck ausüben auf die Schweiz. Ich beginne zu hyperventilieren, und alles dreht sich. Sie erschießen ihn, denke ich, sie erschießen ihn jetzt. Bitte, tut es nicht, bitte nicht. Nichts ist zu hören. Keine aufgeregten Stimmen, kein Schuss.
Als David nach etwa fünfzehn Minuten mit den Männern zurückkommt, sehen wir einander in die Augen, erkennen im anderen aber nur Resignation und Verzweiflung. Unsere Bewacher geben sich plötzlich überraschend freundlich. Uns wird höflich mitgeteilt, dass wir in ein anderes Haus gebracht werden.
»Wieso?«, fragen wir. Wir wollen nicht schon wieder verlegt werden, nicht schon wieder im Kofferraum sitzen, uns an eine neue Umgebung gewöhnen. Wir haben ein gewisses Zutrauen zu den Menschen in diesem Weiler gefasst, selbst der feuchte Verschlag und das enge Bettgestell sind uns lieber als ein unbekannter Ort.
Wir hätten in dem anderen Haus bessere Kommunikationsmöglichkeiten, könnten schneller auf Verhandlungsangebote reagieren. Es gebe dort Telefon, Internet, außerdem Strom und fließendes Wasser, richtige Sanitäranlagen. Wir sind inzwischen skeptisch geworden, selbst ich. David hat, wie ich sehr viel später erfahren werde, nie wirklich an den versprochenen Komfort geglaubt.
Die Fahrt werde nur drei Stunden dauern, sagt der fremde Mann. Immer sind es drei Stunden, so wie wir auf Deutsch jemanden fragen, ob er mal ein paar Minuten Zeit hat.
Wir willigen ein. Was bleibt uns anderes übrig? Wir packen unsere Sachen zusammen, die Tränen laufen mir über das Gesicht. Wir werden zu einer Limousine an den Unterstand gebracht. Die Frauen und Kinder stehen da, Knorrli mit seinen Söhnen. David umarmt alle, und dann beginnen auch die Leute um uns herum zu weinen, selbst einige Paschtunenmänner. Es ist absurd, aber dieser Abschied fällt uns schwer. Weil wir wieder dem Ungewissen entgegenfahren? Angst haben? Oder weil wir in diesen Menschen echte Zuneigung gespürt haben? Jede Verschiebung ist eine psychische Extrembelastung, weil man erneut alle Sicherheiten verliert. Selbst eine niedrige Zimmerdecke, eine bestimmte Stellung im Liegen, gibt nach einer gewissen Zeit ein Gefühl von Vertrautheit. Nun ist wieder alles dahin, wieder müssen wir mit unseren Bewachern in einen unbekannten Raum aufbrechen, über den nur sie bestimmen können.
David werden Handschellen angelegt, der Doktor taucht wieder auf. Aber wir wagen nicht mehr, ihn anzusprechen, weil wir weder ihn noch uns gefährden wollen. Er geht um den weißen Toyota Corolla herum und sagt zu dem Fahrer, wir seien gute Leute, sie müssten uns anständig behandeln. Dann verabschiedet er sich von uns, schaut uns in die Augen. Wir haben einander ein Versprechen gegeben: Wer auch immer zuerst
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