Und morgen seid ihr tot
Aufenthaltsraum und durch den Innenhof führen. Wir erwarten, dass man uns hinaus ins Freie bringt, in ein anderes Gebäude, irgendwohin, wo es dieses Doppelzimmer mit Dusche, Telefon und Internetanschluss gibt, von dem ich seit über einer Woche träume. Doch wir gehen nur wenige Schritte und stehen wieder in dem muffigen Loch, in dem es uns schon am Vortag den Atem verschlagen hat. Unsere Männer machen eine einladende Geste. Wir verstehen nicht recht. Dasselbe Zimmer wie am Vortag, weder geputzt noch gelüftet. Es ist genauso deprimierend, verdreckt, düster wie vorher. Ein Kerkerloch. Wir fühlen uns hintergangen, verhöhnt und möchten Junkie zur Rede stellen. Aber Junkie ist nicht da.
Der Doktor raunt mir zu, er habe uns gewarnt, man dürfe diesen Leuten nicht über den Weg trauen. Sicher spielt der Komfort einer Unterkunft eine geringe Rolle, gemessen an der Lebensgefahr, in der wir uns befinden, und niemand von den Einheimischen hat eine bessere Unterkunft als wir, aber dieses Zimmer führt uns unsere Wirklichkeit vor Augen, die wir immer wieder auszublenden trachten: Wir sind vollkommen ohnmächtig, isoliert, und unser Leben hängt von der Willkür unserer Bewacher ab. Uns bleibt nichts anderes übrig, als das Zimmer zu beziehen. Wenigstens wohnen wir mit dem Doktor zusammen. Zumindest glauben wir das. Unsere Tür besteht aus zwei niedrigen Holzbohlen, die wie eine Salontür aufschwingen, die kleinen Gucklöcher auf die Straße sind mit einer rosa Folie zugeklebt, ein munterer Junge, den wir »Monkey« taufen werden, bringt uns eine Matte, mit der wir den Erdboden zwischen den Betten belegen können. Später serviert Monkey uns auch das Essen.
Wir wollen hinaus an die frische Luft und dürfen eine Weile auf der Terrasse sitzen, wo sich David der Fußnägel des Doktors annimmt, wozu dieser selbst nicht mehr in der Lage ist. Die Nägel sind gelblich, zum Teil eingewachsen und seit Monaten nicht geschnitten worden. Anschließend versucht David mit einer Druckmassage, die Blutgefäße in den Gliedern des Doktors zu stimulieren, die durch das lange Hocken in dem Kellerloch geschwächt sind.
Immerzu werden wir dabei wie Tiere angestarrt, und wir fragen uns immer wieder, was diese Menschen mit uns tun werden. Und vor allem: wann endlich die Verhandlungen stattfinden, wann unsere Eltern verständigt werden, zumindest darüber, dass wir noch am Leben sind.
Der einzige Trost sind die angenehm warmen Sonnenstrahlen, und dieses kleine positive Gefühl reicht, um sich die Schweizer Berge vorzustellen. Wir sehen Männer vorbeigehen, hören aus der Ferne Gesang, jemand rezitiert Suren.
Doch unseren Bewachern ist nicht wohl angesichts des Publikumsverkehrs auf der Straße. Sie fordern uns auf, in den Innenhof zu gehen, wo sie uns vor Blicken verbergen können. Allerdings werden wir auch hier von Jungs und Männern angestarrt, die uns immer wieder besuchen wie Zootiere. Sie schauen uns minutenlang an, ohne jegliches Gespür für unsere Konvention, nach der man, wenn sich die Blicke von Unbekannten kreuzen, nach einigen Sekunden die Augen abwendet. Entweder sehen sie uns nicht als menschliche Wesen an, oder es herrschen in Nord-Waziristan andere Konventionen als in der restlichen Welt. Oder wir werden einfach so ausgestellt, wie man es vor zweihundert Jahren bei uns zu Hause mit aus Amerika »importierten« Indianern gemacht hat.
Der Tag neigt sich dem Ende zu, und wir müssen zum Schlafen in unser stickiges Doppelzimmer gehen. Zum Glück haben wir den Doktor bei uns. Dann erscheint auch der Dorfchef, schließt die Tür von innen ab und legt sich mit dem Schlüssel in der Brusttasche ins vierte Bett.
Als wir uns am Morgen von unserer feuchten Pritsche erheben, kommen plötzlich unsere Entführer, alle in festliches Weiß gehüllt, in unsere in den Hang hineingebaute, schmuddelige Höhle. Junkie wendet sich an den Doktor, in so lautem Ton, dass alle ihn hören können. Er scheint ihm Vorwürfe zu machen, und sein Tonfall wird immer aggressiver. Sie reden in Paschtu, und wir verstehen kaum ein Wort, merken aber, dass es um uns geht. Junkie scheint nicht zu gefallen, wie der Doktor sich in unserem Beisein verhält. Am Vortag hat der Arzt uns nicht nur vor der Hinterhältigkeit unserer Entführer gewarnt, er hat auch dem Koch widersprochen, als dieser sich damit gebrüstet hat, man werde Milliarden oder Billionen Rupien Lösegeld für uns erpressen. Und nachdem der sechzehnjährige Bursche, der ihn monatelang in seinem
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