Und morgen seid ihr tot
Lausbefall), seine Miene ist eine kalte, starre Maske. Nie hat er ein Lächeln für uns übrig oder eine Geste der Solidarität, Neugier oder sonstiger Anteilnahme. Wir erfahren, dass der Peiniger des Doktors, der »Bungalow Sergeant«, ebenfalls ein Bruder der beiden ist. Kaum zu glauben, dass Monkey und die beiden anderen im selben Umfeld aufgewachsen sind. Was hat die Brüder so unterschiedlich werden lassen? Neid? Eine Familientragödie? Sind sie womöglich keine leiblichen Brüder? Wir werden es nie erfahren.
Der Doktor ist bereits am ersten Abend wieder aufgetaucht, ohne sichtbare Verletzungen. Allerdings wagt er sich nicht mehr in unsere Nähe und spricht auch nicht mehr mit uns. In den restlichen Nächten ist der Dorfchef unser Schlafgenosse und Bewacher. Er ist ein beleibter Mann, der eine joviale, gutmütige Art zu haben scheint. Einmal, als David draußen pinkelt, beugt er sich plötzlich über mich. Ich liege starr auf meinem Bettgestell, erahne in der Finsternis den fremden, massigen Körper, spüre die Wärme, die er ausstrahlt, rieche das von den Paschtunen bevorzugte Sandelholzparfum. Der Dorfchef streckt seine Hand nach mir aus, legt sie auf meine Wange. Ich bin wie gelähmt, weiß nicht, ob ich mich schlafend stellen oder mich wehren soll. Moslems dürfen eine fremde Frau nicht ansprechen, geschweige denn berühren. Ich lausche hinaus in die Nacht. Warum kommt David nicht zurück? Die Finger des Dorfchefs liegen auf meinem Gesicht. Er nimmt die Haut und kneift hinein, drei Mal. Ich atme noch immer nicht, warte auf seine nächste Bewegung. Was tue ich, wenn er mich betatscht? Wenn er mich mit seinem klobigen Leib unter sich begräbt? Da verschwindet der dunkle Schatten über meinem Gesicht, die Schritte entfernen sich auf dem gestampften Lehmboden, er lässt sich wieder auf sein Bett sinken. Ich liege starr und höre ihn atmen. Das Metallgestell ächzt unter seinem Gewicht. Er wälzt sich hin und her.
Als David wieder bei mir ist, bitte ich ihn flüsternd, mich nie wieder alleine zu lassen. Wenn einer von uns auf Toilette muss, gehen wir zusammen. Als ich ihm den Grund erkläre, nickt er, und ich spüre, wie es in ihm rumort. Wie weit seine Rachegedanken gehen, wird er mir erst später anvertrauen, doch ich merke, dass er von nun an den Dorfchef hasst. Ehe ich einschlafe, lege ich meine Hand unter seinen Rücken, wie ich es auch in unserem Bus immer getan habe, damit mich niemand von ihm unbemerkt wegtragen kann.
Zu unserer Routine an diesem Ort gehört, dass wir gegen Abend etwa eine Stunde laufen dürfen. Knorrli und Monkey sowie ein oder zwei bewaffnete Wächter begleiten uns, fallen aber bald zurück und gestatten uns, so schnell zu rennen, wie wir wollen, nur in Sichtweite müssen wir natürlich bleiben.
Knorrli und Monkey sprechen kein Englisch, wir verständigen uns mit Augenzwinkern, Gesten, einigen Wörtern Paschtu. Es sind nicht viele Worte nötig, unsere Situation ist so kompliziert und auch so simpel, dass man wenig dazu sagen kann.
Die letzten Sonnenstrahlen, die angenehme Wärme, die Orangetöne auf den Hügelkuppen und in den Tannenwipfeln geben uns, solange wir unsere Körper spüren, solange unsere Muskeln und Lungen arbeiten, ein Gefühl von Wohlbefinden und positiver Energie. Zudem versuchen wir, uns zu orientieren. In welcher Höhe sind wir, wie weit von der afghanischen Grenze entfernt? Falls die Grenze hinter einem der bewaldeten Hügel liegt, muss es dort auch Militärstützpunkte geben. Die Wälder gäben eine gute Deckung für eine Flucht ab.
David denkt an die lange Antenne, mit der der Dorfchef vom Männerzimmer aus Funkverkehr hat. Würden wir die Antenne manipulieren, könnten wir vielleicht einen kleinen Vorsprung gewinnen. Aber wie sollen wir Europäer, ich noch dazu blond, durch einen von Paschtunen bewohnten Wald fliehen, ohne aufgegriffen zu werden?
Ich gehe täglich hinüber zu den Frauen. Meine anfängliche Angst, mich von David zu entfernen, verliert sich hier. Man schenkt mir eine bunte Halskette und einen Topflappen, den Asina, das Mädchen, das ich ins Herz geschlossen habe, eine halbe Stunde lang schrubbt und reinigt, ehe sie ihn mir mit einem strahlenden Lachen überreicht. Monkey bringt mir Wiesenblumen, später sogar Blumen mit Wurzeln, die ich zu einem kleinen Garten anlege.
Wir haben ausreichend sauberes Wasser zu trinken, bekommen zweimal täglich zu essen. Wenn wir nicht laufen oder im Innenhof sitzend auf Neuigkeiten warten, spielen wir UNO ,
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