Und morgen seid ihr tot
werden Lichtzeichen gegeben. Ein Auto wartet auf uns. Es ist die weiße Limousine, mit der wir schon am Nachmittag ein Stück gefahren sind. Wir können uns auf die Rückbank setzen und endlich ausruhen.
Der Wagen holpert über eine steinige Piste, immer wieder schlägt das Bodenblech auf, und dann fällt das Scheinwerferlicht auf eine glitzernde Fläche. Wir stehen an einem Bach, die Fahrt ist nach wenigen Minuten schon wieder zu Ende. Wozu sind wir dieses kurze Stück mit dem Auto gefahren? Wussten sie nicht, dass hier ein Bach verläuft? Obwohl der Hirte hier jeden Stein zu kennen scheint?
Alles wirkt jetzt wieder chaotisch und willkürlich auf uns. Ein Moped kommt angeknattert, es ist das Moped, das uns schon den ganzen Tag, in einem gewissen Abstand, eskortiert. Wir müssen durch den Bach waten, ich verliere immer wieder meine Flip-Flops und bekomme Gummisandalen mit Klettverschlüssen, die mir jedoch zu weit sind und nach kurzer Zeit schon Blasen verursachen.
Wir steigen einen Hügel hinauf. Der Hirte scheint sich blind orientieren zu können. Unsere Entführer folgen ihm, die schweren Waffen schleppend. Doch plötzlich werden sie hektisch, zischen einander an und werfen ihre Lasten ab. Man hört einen Motor. Sie legen sich auf den Boden und befehlen uns, es ihnen gleichzutun.
Ein Motorrad knattert durch die Stille, der Scheinwerfer tanzt über die Geröllfelder, kriecht den Hügel hinauf und senkt sich dann Richtung Tal. Als wieder Stille herrscht, dürfen wir aus der Deckung kommen, der Marsch geht weiter. Stundenlang. Ich umklammere Davids Hand, rutsche aber trotzdem in den zu großen Gummisandalen aus, schlage mir das Knie blutig.
Wenn gerastet wird, sitzen wir im Kreis und eine in Stoff eingeschlagene Plastikflasche mit trübem Wasser macht die Runde.
Gegen Morgen breiten die Männer ihre Tücher auf den Steinen aus. Diese Tücher haben viele Funktionen. Sie dienen als Kleidungsstück, zur Vermummung, als Taschen- und Handtuch sowie als Isomatte. Wir müssen uns in ihre Mitte legen. Ich lausche angsterfüllt auf ihre Stimmen, die eine unverständliche Sprache sprechen, versuche, am Tonfall zu erkennen, was mit uns geschehen wird. »Ich habe ein ungutes Gefühl, Daniela«, hat meine Mutter immer wieder vor der Abreise gesagt, »bitte, fahr nicht.« Ich sehe den Mond, den sie jetzt ebenfalls betrachtet, sich fragend, warum wir uns nicht mehr melden. Doch irgendwann ist der Selbsterhaltungstrieb, der die Funktionsfähigkeit des Körpers über alles stellt, stärker als alle Ängste, und ich falle in einen tiefen Schlaf.
2. JULI
Ich kann mich nicht erinnern, in diesen ersten Stunden geträumt zu haben. Falls doch, dann sicher von zu Hause, vom Wohnzimmer meiner Eltern, von dem Kuchen, den meine Mutter am Sonntag serviert, vom Blick über unseren Garten und das weite, grüne Tal. Im Wachzustand kreisen meine Gedanken jedenfalls permanent um meine Eltern. So schmerzhaft diese Gedanken sind. Ich spüre eine unendliche Entfernung von ihnen, die noch größer wird durch die Vorstellung, dass sie nichts von unserem Schicksal wissen. Machen sie sich Sorgen, weil unser Reiseblog schweigt? Weil wir auf ihre Anrufe und SMS nicht reagieren? Hat man unseren verlassenen Bus mit dem Schweizer Kennzeichen gefunden? Hat man womöglich bereits die Behörden alarmiert?
Wir wissen nicht, dass meine Eltern schon gestern in den Acht-Uhr-Nachrichten von der Entführung zweier Schweizer Touristen in Belutschistan gehört und sofort an uns gedacht haben, dass die Berner Polizei in der Nacht bei Davids Mutter geklingelt und ihr von unserem Verschwinden erzählt hat. Dass unser Freund Fabian, der diese Reise von Anfang an mit geplant und im letzten Moment darauf verzichtet hatte, soeben Peter und Muriel, die Eltern von Liv und Fynn, verständigt hat, und dass Peter nun flucht und schreit, bis er den erschrockenen Gesichtsausdruck seiner Mädchen sieht und sich beherrscht.
Mit David rede ich stundenlang von zu Hause, auch wenn er immer einsilbiger wird und schließlich mürrisch reagiert.
Wir sind schon wieder in Marsch gesetzt worden. Beim ersten Morgengrauen hat man uns wachgerüttelt, mit Gesten und den wenigen Wörtern Englisch, die Manora spricht. Die anderen sagen nur alle zwanzig Minuten: »No tension, no problem«, »Inschallah«, oder geben uns Befehle: »Sleep!«, »Rest!«, »Walk!«. Der Hirte geht wie üblich voraus, dann kommen die fünf Entführer und wir. Die restlichen Männer gehen in einigem Abstand. Mal
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