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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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Wir lehnen uns an den Baumstamm und lassen den Blick schweifen. Trockene Stoppelfelder, grünes Gras, das die Wassergräben säumt, ein weiter Blick bis zu den Bergen am Horizont. Nach vier Monaten diesen Raum zu sehen, die warmen Farben, das Gluckern des Wassers im Graben, der laue Wind auf dem Handrücken, das Rascheln des Laubes … Mein Herz schlägt ganz ruhig, mein Atem fließt, wir leben. Kein Haar wurde uns gekrümmt, auch Davids Schlüsselbein ist unversehrt. Ich kann David in der Öffentlichkeit nicht berühren, sehne mich aber so nach seinem Körper, dass ich zumindest sein Bein flüchtig streife. »Wir leben!«, sage ich. »Wir sind noch nicht tot!« Was für ein Glück, lebendig zu sein.
    Wir sitzen da und warten, und ich wünsche mir nur, dass dieser Moment niemals enden möge. Der Herbst, der mir dieses Jahr genommen wurde, ist plötzlich da, im sanften Nachmittagslicht, Davids Brustkorb hebt und senkt sich, am Ortsrand sieht man noch Getümmel, sogar den alten Talibanführer in seinem hellblauen Gewand, die Helikopter, die abdrehen, aber das alles scheint uns plötzlich nichts mehr anzugehen, ist nur eine Kulisse für ein Naturschauspiel, das ein allumfassendes Gefühl von Harmonie und Sinn verbreitet.
    In einem ähnlichen Helikopter, hoffen wir, werden wir eines Tages aus diesem Irrsinn davonschweben.

KAPITEL V

IN DUMBOS HOF
    6.   NOVEMBER 2011 BIS 15.   MÄRZ 2012

    David hat seit seiner Kindheit von Marco Polos Reisen geträumt. Dessen Route entlang der Seidenstraße, von Venedig bis nach China, stand Pate für die Planung unserer Tour auf dem Landweg. Der siebzehnjährige Marco sollte seinen Vater und seinen Onkel, zwei erfolgreiche Gewürz- und Juwelenhändler, 1271 Richtung Mongolei und China begleiten, doch was als gewinnträchtiges Praktikum für den Kaufmannslehrling gedacht war, wurde zu einem Abenteuer, das kein Ende nehmen wollte. Marco Polo machte Karriere am Hof des Kublai Khan, wurde zur rechten Hand des Herrschers, der ihn zum Präfekten ernannte und durch sämtliche Provinzen seines Reiches schickte.
    Da der Kublai Khan Marco Polo nicht ziehen lassen wollte, dauerte es zweiundzwanzig Jahre, ehe dieser in seine Heimat zurückkehrte.
    Sein Wissen wäre wohl nie zu Papier gebracht worden, hätte man ihn nach einer Seeschlacht nicht ins Gefängnis gesteckt, in eine Zelle mit dem Autor Rustichello da Pisa, der Marco Polos Reiseberichte aufschrieb.
    Ich habe zwar keinen Autor von Ritterromanen neben mir, dem ich meine Erlebnisse in die Feder diktieren könnte, ich muss selber schreiben, und ich gehe bei allem Pessimismus nicht davon aus, dass wir in vierundzwanzig Jahren noch hier in Nord-Waziristan sitzen werden, aber es gibt mehr Parallelen zu Marcos Polos Reise, als uns lieb ist.
    Ich liege auf einem der beiden Holzgestelle, in denen wir eine neue Schlafstatt gefunden haben. Das etwas bequemere, auf dem ich liege, ist mit Plastikriemen bespannt, das andere mit Hanfschnüren, darauf schläft David. Wer zuvor darin geschlafen hat, ist nicht schwer zu erraten, denn eine solche Mulde konnte sich nur durch Dumbos Gewicht bilden. Es ist Nachmittag, ausnahmsweise herrscht Ruhe in unserem Zimmer, und ich kann die chaotischen Ereignisse der letzten beiden Tage nachtragen.
    Mit dem Auto, das Depp organisiert hatte, wurden wir zu Dumbos Privathaus gebracht. Fünf Stunden brauchten wir für eine Strecke, die normalerweise in knapp einer halben Stunde zu schaffen ist. Unterwegs fragten wir, was aus Bissu wird, ob wir ihn nicht nachholen können, aber die Bewacher antworteten nur, der größere Verlust sei das geschlachtete Schaf. Da Nase nicht an Bord war, fehlte die Koordination, und vor allem Guildo Horn piesackte uns – aus Unsicherheit oder latentem Sadismus – mit hirnverbrannten Vorschriften. David musste sich im Auto ein Tuch um den Kopf schlagen, ich die Burka tragen – trotz der Hitze und der getönten Scheiben. Wenn ich die Hand hervorstreckte, um mir ein wenig frische Luft zu verschaffen, fauchte Guildo mich an, die Leute auf der Straße könnten an meinen Fingern erkennen, dass ich Ausländerin sei. Ich war so aufgebracht, fühlte mich so gedemütigt durch die Schikanen, dass ich es wagte, ihm zu widersprechen. Doch auch das ließ er natürlich nicht zu, nicht einmal mit David durfte ich mich unterhalten, weil die Passanten unsere fremde Sprache – im geschlossenen Wagen, in voller Fahrt – bemerken würden.
    Als wir ein dringendes Bedürfnis verspürten, mussten wir lange

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