Und morgen seid ihr tot
gekommen sei, stellt seine großzügigen Fresspakete ab. Es gebe gewaltige Probleme mit der Gefangenenfreilassung. Die Kinder werden aus dem Raum geschickt, wir öffnen die Kartons. Käsesaucen, Makkaroni, Hühnerfleisch in Büchsen, argentinisches Rindfleisch, Snickers, Kitkat, Mars, Tomatenpüree, Ketchup usw. Nase schickt auch noch Mino, unser Hausfaktotum und unseren Quälgeist, aus dem Zimmer, dann gibt er uns einen Brief von Hans. Das ist der Beweis, dass eine neue Taktik zur Anwendung kommt, oder anders formuliert: Die alte ist gescheitert. Wir sind wieder am Nullpunkt angekommen.
In dem Brief stehen Anweisungen für ein Telefonat mit unseren Familien. Wir sollen sagen, dass unser Leben in größter Gefahr sei, weil die Einigung mit der pakistanischen Regierung gescheitert ist. Statt der Gefangenen fordere man nun ausschließlich Lösegeld. Fünf Crore, die unsere Eltern zur Schweizer Botschaft nach Islamabad bringen sollen. Dazu haben meine Eltern sich an einen Mittelsmann in Pakistan zu wenden, der ihnen angezeigt werde.
Sie hätten eine Woche Zeit. Nach einer Woche seien wir tot. Auf der Rückseite schreibt Hans noch, diese Aussagen dienten nur dazu, den Druck zu erhöhen.
Das Ultimatum macht mir trotzdem Angst. Ich frage Nase, ob sie uns tatsächlich in keinem Fall töten werden. »Nein, inschallah«, ist die Antwort. Ein Nein ohne »inschallah« wäre mir lieber gewesen.
»Und was passiert, wenn weder Gefangene noch Geld kommen?«, fragt David nach. »Nichts«, verspricht Nase mehrmals.
Vor wenigen Tagen haben die Taliban fünfzehn Frontier-Corps-Leute auf einem Hügel erschossen. Die Bilder habe ich stets vor Augen. Nase schüttelt den Kopf. Das werde uns nicht passieren.
Ob wir den Brief verstanden hätten, fragt er. Die pakistanische Regierung habe genug Spielchen gespielt. Man würde jetzt nur noch mit der Schweiz verhandeln, nur noch um Geld. Er werde am nächsten oder übernächsten Tag wiederkommen, und dann würden wir mit einem Handy oder einem Satellitentelefon in die Heimat telefonieren. Wir fragen noch einmal: »Wie viel sind fünf Crore?«
»Fünf Millionen«, antwortet Nase. (In Wahrheit sind es, wie wir später feststellen müssen, fünfzig.)
»Kannst du es in Rupien aufschreiben?«
Er beginnt, eine »5« zu malen, dann hängt er neun Nullen dran, schaut Dumbo, den Analphabeten, an, dieser sagt: »Zehn Nullen«, Nase streicht zwei Nullen wieder durch und sagt: »Ich weiß es nicht.«
Wir sprechen über die Vermögensverhältnisse unserer Familien, ob sie auch ohne staatliche Hilfe fünf Millionen Schweizer Franken auftreiben könnten. Im Notfall würden die Taliban sich auch mit drei oder vier zufriedengeben. Nase lässt sich die ersten Tage unserer Entführung erzählen. Dann kommt Mino herein und trägt Tee auf. Nachdem wir wieder unter uns sind, berichten wir von unserem täglichen Kampf um Hygiene, Lebensmittel und Brennmaterial, wenn der Strom und damit die Heizspirale ausfalle.
Wieder schläft Nase bei uns. David hat ihm eine Wärmflasche aus einer Plastikflasche gebastelt. Lachend nimmt er sie an, Davids Erfindungsgeist lobend. Die anderen Hausbewohner haben den Sinn der Flasche nicht begreifen wollen.
Vor dem Einschlafen schaut Nase uns an, klopft auf seine Brust, um einen schnellen Herzschlag anzudeuten, hebt den Kopf Richtung Zimmerdecke und sagt: »Drohnen am Himmel.«
Nachdem er verschwunden ist, haben wir wieder akute Todesangst. Wir bekommen einfach das Ultimatum nicht aus dem Kopf. Mit David habe ich mich darauf geeinigt, dass Nase fünf Millionen gemeint haben muss. Aber selbst wenn die Schweiz oder unsere Eltern in einer Woche fünf Millionen auftreiben – es gibt so viele Unwägbarkeiten, so viele Schaltstellen, an denen ein Fehler oder eine Unterschlagung passieren können. Bisher hat jeder Verhandlungsschritt Wochen und Monate gedauert, Kontaktaufnahmen, die scheiterten, Missverständnisse, Fehler, Tricks von irgendwem in der langen Befehlskette … Jetzt wird eine neue Strategie gefahren, und die soll in einer Woche zum Abschluss gekommen sein? Was geschieht, wenn auch diese Woche ergebnislos verläuft? Wie lange können die Taliban es sich leisten, uns beide am Leben zu lassen, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren? Und wie lange werden sie uns durchfüttern? Wie lange können sie einen Schmarotzer wie Dumbo für seine Dienste bezahlen? Andererseits, hätte Nase uns wieder so großzügig versorgt, wenn er uns in sieben Tagen eliminieren wollte?
Zwei
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