Und morgen seid ihr tot
es und freue mich für die Mutter, dass es ein Junge ist. Denn die Geburt eines Mädchens wird fast als Unglück angesehen.
Später gibt mir Chobana die sechs Medikamente, die sie nehmen soll, und bittet mich, die Packungsbeilage zu lesen. Eines der Mittel ist ein Anti-Depressivum. Als ich ihr den Zweck erklären will, starrt sie mich nur mit großen Augen an. Da der Arzt es ihr verordnet hat, nimmt sie es aber trotzdem.
Wir leben in einer Mischung aus Verzweiflung, Ungläubigkeit, Mitleid und Hilflosigkeit. Aber wir sind mit unserer Widerstandskraft am Ende. Dumbo schläft, wie wir merken, nicht mehr vor unserer Tür. Ihm ist es draußen offensichtlich zu kalt. Aber wenn ich David mit Fluchtgedanken komme, wimmelt er ab.
Das Jahr 2011 endet, und damit unser sechster Monat der Gefangenschaft. Wir haben aus einem der unzähligen Säcke, die bei uns im Zimmer hängen, warme Jacken bekommen. Die geschlossenen Schuhe, die Nase mir geschickt hat, sind schon wieder durchgelaufen. Das Training fällt uns schwer. Wenn ich trabe, fühlen meine Muskeln sich hölzern und kraftlos an, die Sit-ups müssen wir manchmal abbrechen, wenn Magenkrämpfe uns lähmen. Dumbo erzählt, eine Greifertruppe der Taliban habe versucht, ein Ärzteehepaar zu entführen. Es sei zu einem Schusswechsel mit der Armee gekommen, bei dem fünf Taliban und die beiden Geiseln gestorben seien. Es sei jedoch nicht »unsere« Gruppe gewesen. Bei aller Verzweiflung steigt ein Gefühl der Dankbarkeit auf, dass unsere Verschleppung damals »reibungslos« geklappt hat. Wir sind sogar froh, dass die Polizeieskorte uns verlassen hatte, denn sonst wäre es zu Blutvergießen gekommen, und wir wären trotzdem entführt worden. Junkies Worte waren eindeutig gewesen.
Anlässlich der Geburt seines Sohnes gibt Dumbo in der Moschee ein Fest. Man erwartet auch zehn auswärtige Taliban, darunter Junkie. Die Frauen arbeiten den ganzen Tag, backen Fladenbrote, bereiten Fruchtschalen und Gurkenteller, braten Fleisch. Selbst die Männer helfen mit. Ein Schaf wird in den Hof gebracht und geschächtet.
Die Kinder spielen mit den abgeschnittenen Hoden, ein junger Taliban bläst die Lunge wie einen Luftballon auf und stört sich nicht an dem Blut, das ihm einen großen roten Clown-Mund malt.
Am Nachmittag werden die Gerichte zur Moschee getragen. Wir bleiben mit leerem Magen zurück. Ich laufe zu den Frauen ins Zimmer und frage: »Wo ist das Essen für uns? Bekommen wir nichts davon ab?«
»Nein, es ist für die Männer. Wir warten auf die Reste.«
Ich bin fassungslos: »Ihr habt den ganzen Tag gekocht und dürft nichts essen?«
»Das hat Dumbo so angeordnet.«
Sie sitzen mit den Kindern auf dem Boden und warten.
Als Dumbo wiederkommt, schlägt er sich auf seinen stattlichen Bauch und sagt: »Mo, dear duck«, »Bin ich voll …«
»Was soll das?«, frage ich.
»Ohhh«, macht er mit bedauernder Geste, »ich habe euch (David und mich) vergessen. Bitte Nazarjan nichts sagen.«
Sofort läuft er und bringt uns kalten Reis, Reste von Fladenbrot und ein paar Knochen, an denen noch Fleischfasern hängen. Die Frauen warten noch immer.
Als wir gegen Abend noch einmal Runden laufen, hungrig und wütend, bezieht Mino am Tor Stellung. An der Aufregung, die im Hof herrscht, ist offensichtlich nicht allein das Geburtsfest schuld, sondern auch die Ankunft eines hochstehenden Gastes. David nennt ihn den »Herrn der Hühner«, weil Jung und Alt wie aufgescheuchte Hühner herumrennen, sobald er vor dem Tor steht. Und sobald der Herr der Hühner isst oder spricht, reihen sich alle wie die Hühner auf der Stange auf. Tatsächlich ist er gekommen, der Herr der Hühner, unser Held, unser einziger Gesprächspartner, unser Hoflieferant für Extrarationen, für Nachrichten aus der Welt der Diplomatie und Politik, Nazarjan, genannt Nase. Er kündigt sich an mit zwei Plastiksäcken, die in den Hof gestellt werden. Dann kommt er herein, umschlingt David. Oft kneift er ihm dabei in die Hautfalte am Rücken, als wollte er die Fettschicht prüfen, oder er hebt ihn hoch, um sein Körpergewicht zu kontrollieren. Wie die Hexe bei Hänsel und Gretel, die sich Hänsels Finger durch die Gitterstäbe reichen lässt, um zu sehen, ob er bald reif für die Schlachtung ist.
Nase drückt mir die Hand, dann setzt er sich auf mein Bett. Er fragt nach unserem Befinden und entschuldigt sich, dass er Weihnachten nicht habe vorbeikommen können. Er entschädigt uns mit Honignüssen, mit einem Imitat von Ferrero
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