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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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vor zwölf Jahren seine Schwester. Seine Mutter sagt immer wieder, sie habe nur noch ihn. Er spricht selten von ihr, aber ich weiß, dass er genauso an ihr hängt wie sie an ihm.
    Wieder ertönt das Besetztzeichen, und Nase sagt: »Wir müssen abbrechen. Sonst ortet uns die Armee. Army, army, bombing …«
    Der Assistent räumt Stange und Kabel weg, Nase fragt: »Was hat dein Vater geantwortet?«
    Ich kann mich nicht erinnern. Ich habe ein Elefantengedächtnis, das Namen, Telefonnummern, Adressen, Gesichter speichert, mehr, als mir manchmal lieb ist. Jetzt ist mein Kopf wie leer gefegt. Ich strenge mich an, sehe Dumbo, der plötzlich auf seinem Moped angetuckert kommt. Er reicht Mandarinen und Davids Buttertoffees durch das Seitenfenster. Der fette Dumbo mit seinem einfältigen Grinsen, seinem weiten Gewand und der lächerlichen Schminke. Alles ist so unwirklich. Mein Vater – sie sind nicht zum Skilaufen nach Zermatt gefahren, sitzen zu Hause neben dem Telefon. Mein Vater, er hat geweint, aber was hat er gesagt?
    Nase weist Dumbo an, den Bambusstab zu Guildo Horn zurückzubringen. Ich schaue auf die grauen Zelte des UNHCR , zwischen denen Rauch aufsteigt. Feuerholz und Müll, mit dem Kinder spielen. Wir frieren nachts in unserem Zimmer, trotz des Schlafsacks. Die Nächte im Zelt müssen furchtbar sein.
    Wir fahren los, halten an einer Tankstelle und warten.
    »Die Armee traut sich nur aus ihren Stützpunkten, wenn die Straße gesperrt ist«, sagt Nase. »Ich werde jetzt zwei Tage bei meiner Familie verbringen, danach gehe ich an die Front. Drei, vier Tage, dann komme ich zurück, inschallah. Ein Vertrauter wird unterdessen die Verhandlungen weiterführen.«
    Sobald die fünf Millionen einträfen, werde man den Austausch, wir gegen das Geld, an der afghanischen Grenze organisieren.
    Nach einer halben Stunde trifft Dumbo ein, lässt sein Moped an der Tankstelle stehen und steigt mit seinen Einkäufen ein. Er greift sich eine Mandarine, reißt die Schale ab, während der Hamza losfährt.
    Das Nachmittagslicht lässt die Hügelspitzen leuchten. Die Landschaft ist karg und wild und atemberaubend schön. David hat einen Sendemast und eine kleine pakistanische Flagge entdeckt, die zur Militärbasis gehören müssen. Wir schauen auf den Kilometerzähler, prägen uns die Distanzen ein. Sieben Kilometer vom Basar entfernt liegt eine große Brücke, darüber der Hügel mit dem Stützpunkt. Danach sind es noch knapp vier Kilometer bis zu unserem Innenhof. Ich erkenne die hohe Mauer um Dumbos Haus. Wir bedanken uns bei Nase für die gewohnt souveräne Durchführung der Operation. Wir streifen die Burkas über, das Tor geht auf, wir schlüpfen hinein, und das Eisentor fällt mit einem tiefen Metallklang wieder zu.
    Wir sind erschöpft, aber sofort bestürmt die Familie uns mit Fragen. »War das Telefonat schön?«
    »Ist es schön zu sagen, dass man in einer Woche tot sein wird?«, frage ich zurück und bin erschrocken über meine barsche Antwort. Später gehe ich zu den Frauen, um es ihnen zu erklären.
    Eine Woche läuft das Ultimatum. Während an mir die Angst nagt, ist David guter Dinge. Er kocht mit der einstigen Leidenschaft und sagt, so zufrieden sei er in den letzten sechs Monaten nicht gewesen. Ob er mich nur von meinen Ängsten ablenken will? Nachts grübelt er wie ich, aber er scheint tatsächlich überzeugt zu sein, dass wir bald frei sein werden. Auch unsere Mägen sind wieder in Form, David schwelgt in Tagträumen und macht einen Speiseplan für die ersten drei Wochen in der Schweiz: eine Woche lang essen bis zum Abwinken, dann eine Woche lang »nur« die doppelte Ration, anschließend graduelle Rückkehr zu normalen Portionen. Auch wenn er mir keine Details verrät, ist David schon ganz in die Fluchtplanung vertieft. Vielleicht kommt daher sein neuer Elan.
    Drei Tage später erscheint Dumbo und sagt: »Kein Kontakt. Inschallah werdet ihr sterben.«
    Ich begreife die Welt nicht mehr. Es kann doch nicht so lange dauern, eine Telefonnummer anzurufen. Was tut mein Vater? Hat er nicht die Regierung kontaktiert? Agiert er jetzt auf eigene Faust? Ohne Englischkenntnisse? Mit seinem Temperament?
    Am nächsten Tag kommt Dumbo und erzählt endlich, der Kontakt zur Schweizer Botschaft stehe. Jetzt müssten noch die Details der geheimen Übergabe geklärt werden, denn alles müsse hinter dem Rücken der pakistanischen Armee ablaufen. Meine Unruhe legt sich nicht. Das Ultimatum rückt näher, und meine Fantasie malt sich

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