Und morgen seid ihr tot
Rocher, mit Mandarinen und Bananen, Zuckerkugeln und Sandwiches. Mino beginnt, Nazarjans Oberschenkel zu massieren, wobei er ihn ehrfürchtig von der Seite anschaut.
Tee wird aufgetragen, der nur in Nases Anwesenheit so köstlich schmeckt. Vielleicht liegt es an der guten Stimmung, in die der Besuch uns versetzt, wahrscheinlich aber an den frischen Teeblättern, die Dumbos Familie nur für Nase opfert. Nachdem alle Ohrenzeugen nach draußen geschickt worden sind, berichten wir von unserer Mangelernährung. Unser Gast steckt David noch einmal 5000 Rupien zu. Wir wollen wissen, wie es um die Freilassung der Gefangenen bestellt sei, und er reicht uns ein DIN -A4-Blatt – ein Brief von Ali, den wir Hans nennen.
Mr David und Daniela,
hoffentlich geht es Euch gut.
Ihr habt gehört, dass dreizehn Mudschahedin entlassen wurden und die Prozedur damit begonnen hat. Die entlassenen Brüder kommen nicht aus regulären Gefängnissen. Sie wurden vom Geheimdienst festgehalten, in Missachtung der Gesetze von Justiz und Menschlichkeit. Drei Mudschahedin wurden letzte Woche in diesen Gefängnissen getötet, als man ihre Namen auf der Liste sah. Die anderen dreizehn Mudschahedin waren bis auf die Knochen abgemagert.
Einer von ihnen hatte drei Monate lang nichts gegessen und starb am sechsten Tag nach seiner Freilassung. Alle anderen sind eher tot als lebendig. Noch viele andere sitzen in den Gefängnissen und warten auf ihre Freilassung. Nazarjan und andere Mitstreiter sind sechzehn Stunden am Tag im Einsatz, um die Prozedur zum Abschluss zu bringen.
Die weitere Abwicklung obliegt nun der pakistanischen Regierung, welche diese Angelegenheit vor der Weltöffentlichkeit zu verbergen trachtet.
Hunderte Mudschahedin sitzen in ihren Gefängnissen. Wir hoffen jedoch, dass die anderen bald freigelassen werden.
Inzwischen ist ein halbes Jahr vergangen, habt noch ein wenig Geduld. Wir hoffen, dass Ihr bald in Euer Land zurückkehren könnt.
Ihr könnt mich per Brief alles fragen. Ich bin bis zum Ende für Euch da und helfe Euch.
Euer Ali
Nun verstehen wir, warum die Taliban die Gefangenen nicht in einer einzigen Lieferung zurückhaben wollen. Sie wollen Zustand und Identität eines kleinen Kontingents überprüfen, ehe sie das nächste akzeptieren. Es gibt keine Phase in diesem Prozess, bei der man nicht mit einem schmutzigen Trick der Gegenseite rechnen müsste. Wir sind also nicht nur Opfer der Taliban, wir sind Opfer dieser langjährigen Konflikte und Hinterhältigkeiten.
Nase erklärt, am Folgetag sollten wieder zwei Mudschahedin entlassen werden. Er erzählt uns aus seinem Leben, von seiner Familie. Die Hälfte seiner siebenunddreißig Lebensjahre kämpft er schon aufseiten der »Koranschüler«. Er hat fünf Kinder, alle besuchen die Schule, auch die Mädchen. Dann stellt er Fragen zur Schweiz. Für Nazarjan sind wir wie Bücher, die von einem anderen Leben erzählen, von einer Welt, die für ihn immer verschlossen bleiben wird. Er sei früher einmal in Karatschi gewesen, meint er, doch seit er den Taliban angehöre, sei der Besuch solcher Orte Sünde. Er wirkt dabei nicht traurig oder sehnsüchtig, sondern einfach überzeugt. Manchmal kommt es uns vor, als würde er sich bei uns eine Auszeit holen. Mit diesen für ihn so sonderbaren Menschen, die so fremd wirken, auch wenn sie sich inzwischen die Umgangsformen der Paschtunen angeeignet haben.
Manchmal witzelt er, er würde uns eines Tages besuchen kommen, fügt aber bedauernd an, er habe keinen Pass. Wie die meisten FATA -Bewohner hat er nur einen laminierten Karton mit Identifikationsmerkmalen, unmöglich, Pakistan damit auf legalem Weg zu verlassen.
Wieder richtet Dumbo für Nase und sich eine Schlafstatt bei uns im Zimmer ein. Nase schläft schlecht, redet im Traum und kratzt sich am ganzen Körper. Manchmal fährt er hoch und greift nach seiner Pistole.
Am Morgen erzählt er, in der Nacht habe er gekämpft, sei von einer Drohne beschossen worden.
Die Januartage werden noch beklemmender. Mal fällt tagelang der Strom aus, weil nach einem Nachbarschaftsstreit die Leitungen durchtrennt sind, dann ist die Wasserpumpe kaputt oder irgendwo versagt das Stromaggregat. Dumbo besitzt keine Zisterne, wir sind auf den einzigen Wasserhahn angewiesen, der von einem kommunalen Netz versorgt wird. Aber wenn kein Strom fließt, fließt in diesem Netz auch kein Wasser, weil eine elektrische Pumpe für den nötigen Druck sorgen muss.
Hin und wieder bekommen wir einen Kanister
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