Und Nachts die Angst
dass Reeve einen Moment lang überlegt, ob es wohl adoptiert worden ist und ob das irgendeinen Unterschied macht. Sie sieht in Tillys graue Augen, dann in die ihrer Mutter. Die gleichen.
Reeve bemerkt plötzlich, dass sie die Narbe in ihrem Nacken reibt, und nimmt die Hand weg. »Mein Vater brauchte eine Weile, bis er einen guten Psychiater fand. Zuerst ging ich nämlich zu einer Ärztin in Seattle, aber sie war …« Sie rutscht unruhig auf dem Sessel herum. »Ich weiß nicht. Wir konnten einfach nicht miteinander. Daher war es eine Erleichterung, als ich Dr. Lerner kennenlernte. Ich spürte sofort diese Ruhe in ihm, und mir war, als ob er alles einfach verstand, ohne dass ich lange erklären musste, und zwar auf mehreren Ebenen.«
Sie bedenkt Dr. Lerner mit einem raschen Lächeln.
»Jedenfalls konnte er mir helfen. Und er machte mich mit Beth bekannt, die absolut lieb und toll war.« Sie bricht ab und setzt sich wieder anders hin. »Wir sind nach San Francisco gezogen, was mir auch geholfen hat. Aber dann ist meine Mutter krank geworden.«
Das lange Schweigen, das sich anschließt, wird durch das leise Knistern des Feuers betont.
Mrs. Cavanaugh räuspert sich. »Wie alt waren Sie, Liebes, als Sie … entführt worden sind?«
»Zwölf.«
Tilly starrt sie an. Ihre Augen sind ein Spiegel.
»Und wie lange«, setzt Mr. Cavanaugh hinzu, »wenn ich fragen darf, waren Sie, ähm, in Gefangenschaft?«
Sie schluckt den Klumpen in ihrer Kehle. »Drei Jahre, zehn Monate, zwölf Tage.«
Das Gefühl, in Daryl Wayne Flints Kofferraum eingesperrt zu sein, stürzt mit solcher Deutlichkeit auf sie ein, dass sie sie fast spüren kann: die drückend warme, nach Öl riechende Enge, das Grollen der Reifen auf dem Asphalt, der kreischende Aufprall, das Schleudern und dann die unheimliche Stille, in der nur das Ticken des heißen Metalls zu hören ist … Wie oft hatte sie davon geträumt, gerettet zu werden? Und dennoch hatte sie stumm in dem verbeulten Auto ausgeharrt, als der Tumult draußen immer lauter geworden war, hatte durch das Gebrüll und die aufgeregten Stimmen auf die ihres Kidnappers gelauscht und darauf gewartet, dass er das Kommando übernehmen und die Fremden fortschicken würde.
Mrs. Canavaugh verzieht traurig das Gesicht. Sie steht auf, kommt zu ihr, bückt sich und nimmt sie ungeschickt in den Arm. »Armes Mädchen«, flüstert sie ihr ins Haar.
Reeve wirft Dr. Lerner einen gepeinigten Blick zu, doch dann ist es auch schon vorbei. Bevor Mrs. Cavanaugh sich wieder setzen kann, springt Tilly abrupt auf die Füße. »Kann ich ihr mein Zimmer zeigen?«
Ihre Eltern sehen sich verdattert an. Nach einem Moment murmelt Mrs. Cavanaugh: »Natürlich, Schätzchen. Wenn du möchtest.«
Tilly wendet sich an Reeve. »Willst du?«
»Ähm – klar.« Reeve steht auf und folgt dem Mädchen durch den Flur. Tilly bewegt sich lautlos wie eine Katze auf Samtpfoten, und Reeve kommt sich in ihren derben schwarzen Stiefeln schwerfällig vor.
Das Zimmer des Mädchens ist ganz in Gelb gehalten und mit Postern, Fotos, Zeichnungen und dem üblichen Schnickschnack ausstaffiert.
»Hübsch hast du’s hier«, sagt Reeve und bemerkt erleichtert, dass es weder Computer noch Fernsehen gibt. In diesem Stadium hätte die Berichterstattung in den Medien eine vernichtende Wirkung.
Tilly nimmt ein gerahmtes Foto in die Hand. »Da war ich sieben. Wir sind nach Disneyland gefahren.« Sie zeigt es Reeve, dann stellt sie es zurück und nimmt ein anderes. »Das war Weihnachten bei meiner Tante Becca. Sie hat mir eine Marionette gebastelt …«
Reeve folgt Tilly, die ihr ein Erinnerungsstück nach dem anderen zeigt und ihre Geschichte erzählt. Reeve erinnert sich, dass sie es damals genauso gemacht hat – dass sie versucht hat, alles zusammenzukratzen, was aus der verlorenen Kindheit zu retten war. Vielleicht hat Tilly mehr Glück dabei, denn sie ist noch so jung, so klein und noch so wenig entwickelt; Reeve dagegen konnte nach ihrer Befreiung kaum noch etwas von dem Kind erkennen, das sie einst gewesen war.
Tilly nimmt ein kleines Schmuckkästchen aus buntem Glas in die Hand. Als sie es Reeve gibt, betrachtet sie sie genau und fragt: »Wie alt bist du?«
»Zweiundzwanzig.«
»Also warst du ungefähr achtzehn Prozent deines Lebens in diesem Kerker eingesperrt«, sagt das Mädchen tonlos.
Reeve denkt einen Moment nach. »Ja. Stimmt ungefähr.«
»Mehr als ich.«
»Hm-mm. Deswegen wirst du dich bestimmt auch bald besser
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