Und Nachts die Angst
fühlen.«
»Glaubst du?«
»Da bin ich ziemlich sicher.«
»Hast du Narben?«
Reeve blinzelt unsicher. »Ja.«
»Darf ich die mal sehen?«
Das Mädchen ist so direkt, dass Reeve nur auf gleiche Art reagieren kann. Sie holt tief Luft, dann streift sie sich rasch den Pullover über den Kopf, und ihr wird bewusst, dass sie sich zum ersten Mal seit Jahren vor jemandem auszieht, der kein Mediziner ist. Sie beschließt, es erst einmal bei dem Pullover zu belassen. Auch in Jeans und BH gibt es genug Narben zu sehen.
Tilly tritt nah an sie heran, und ihr Gesicht zeigt keine Regung, als sie Reeves Haut untersucht. Sie neigt den Kopf mal in die, mal in die andere Richtung, dann wandert sie um Reeve herum, um sich den Rücken anzusehen. »Woher sind die langen?«
Reeve verspannt sich. »Von einer Peitsche.«
Tilly fährt mit der Fingerspitze an einer Narbe entlang, die im Nacken beginnt und unter den Rippen endet. »Die sehen aus wie Gräser, findest du nicht? Oder wie Federn.«
Reeve sagt nichts. Sie hält ganz still, als Tilly sich wieder vor sie stellt. Das Mädchen hebt die Hand und berührt eine flache runde Narbe auf Reeves rechter Schulter, dann die entsprechende auf der linken. »Und woher kommen die glatten?«
»Von Elektroden. Da ist Strom durchgeflossen.« Reeve kämpft gegen das Bild an, das sich ihr aufdrängt.
»Das muss weh getan haben.« Die Worte sind mitfühlend, ihr Tonfall ist neutral.
Tilly nimmt Reeves Handgelenke, dreht sie hin und her und untersucht die dünnen Narben, die sich einmal ganz herumziehen. Dann betastet sie die kleinen kreisförmigen Male, die wie die Fährte eines bösartigen Tiers Reeves Arme sprenkeln. Tilly arbeitet sich langsam über den Ellbogen bis zur Schulter hinauf und wieder hinab, und sie beugt sich so weit vor, dass Reeve ihren Atem auf der Haut spürt.
Schließlich tritt das Mädchen zurück. »Die habe ich auch.«
In einer flüssigen Bewegung zieht Tilly ihr Pyjama-Oberteil über den Kopf, und an ihrer Unbefangenheit erkennt Reeve, dass das Mädchen noch gewohnt ist, nackt zu sein.
»Siehst du?«, fragt Tilly und reckt Reeve ihre dünnen Ärmchen entgegen. »Meine sind noch ganz rosa.«
Reeve starrt die drei frischen Zigarettenbrandwunden auf Tillys bleicher Haut an.
»Die anderen sind schon ein bisschen blasser.« Das Mädchen zieht die Schlafanzughose herunter und zeigt die Zigarettenmale auf ihrem Hinterteil.
Reeve verkneift sich einen Fluch. »Dieses sadistische Schwein.«
Das Mädchen macht den Mund auf, um etwas zu sagen, schürzt dann aber die Lippen, verschränkt die Arme vor der Brust und presst die Hände in ihre Achseln, als müsse sie etwas Schreckliches in sich festhalten.
14. Kapitel
O bservierungen sind für jemanden mit voyeuristischer Neigung nahezu das perfekte berufliche Fachgebiet, und Duke ist Experte für eine derartig spezielle Technologie, dass keiner außerhalb von Quantico – und bei der Polizei von Jefferson County schon gar nicht – begreift, was genau er macht. Man bringt ihm ein Handy, er liefert die Daten. Man bittet um Videoüberwachung, er schickt sie per Livestream auf ihre Rechner. Jemand soll abgehört werden, er baut die Wanze ein.
Besonders freut ihn, dass er den größten Teil seiner umfassenden Ausbildung durch die Kommune, den Staat oder Bund erhalten hat. Verschiedene gerahmte Urkunden hängen an der Wand seines Büros. Wann immer ihm jemand zu einer Leistung gratuliert, die nur mit seinem enormen Fachwissen erbracht werden konnte, verweist er bescheiden auf das Ministerium für innere Sicherheit.
Er pfeift vergnügt, als er in die Auffahrt einer zweistöckigen Residenz mit traumhaftem Blick auf die Berge einbiegt. Es ist Zeit für einen zweiten Besuch im ehemaligen Zuhause seines neuesten Mädchens, der wunderbar lebhaften Abby Hill.
Ist es nicht amüsant, dass Mr. und Mrs. Hill tatsächlich auf einem Hügel wohnen?
Duke ist schon einmal im Haus der Hills gewesen und hat die Eltern seitdem hier und da in der Stadt gesehen, aber sie haben ihn nicht erkannt. Und selbst wenn, wäre das nicht weiter schlimm. Damals war er nur ein weiterer Mann in Uniform, der in der Zeit extremer emotionaler Belastung nach der Entführung ihrer Tochter vor ihren Augen verschwamm. Ein namenloses Gesicht, nicht so wichtig wie die aufgeblasenen Bundesagenten, die vom Regionalbüro in Sacramento hier eingefallen waren, um für kurze Zeit alles an sich zu reißen. Vielleicht verwechseln die Hills ihn sogar mit einem der anderen
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